Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
gesehen, und er konnte nicht anders, als seine alte Freundin und Weinmarktnachbarin sekundenlang zu mustern, bevor er sein Erstaunen über ihren unerwarteten Besuch überwunden hatte.
»Hallo«, sagte er schließlich mit gemischten Gefühlen; er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihre Freundschaft in letzter Zeit ziemlich schleifen lassen hatte.
»Darf ich reinkommen?«
Lena hatte das glatte, schwarze Haar einer Südeuropäerin, zu dem ihre eisblauen, kindlich klaren Augen einen Kontrast bildeten, eine zierliche gerade Nase, einen Mund, der Brigitte Bardot zur Ehre gereichte, und strahlend weiße Zähne, die allerdings einer leichten Korrektur bedurft hätten. Sie trug einen schlichten Hosenanzug, der ihr ausgezeichnet stand und sie gleichzeitig elegant und geschäftsmäßig wirken ließ.
Lena wollte sich an ihm vorbeischieben, doch Paul füllte unbewegt den Türrahmen aus. »Es ist jetzt gerade schlecht«, sagte er schleppend, in Gedanken bei dem soeben entdeckten Eintrag in seinem Terminkalender.
»Ich bleibe nicht lange.« Lena nestelte etwas überrascht am Kragen ihrer Jacke.
»Ich habe leider gerade keine Zeit. Können wir nicht demnächst mal einen schönen Wein zusammen trinken gehen? Im Goldenen Ritter? Ich lade dich ein, und dann bereden wir alles.«
»Alles?« In ihrer Stimme schwangen Zweifel mit – und Spott. Aber auch Wärme, registrierte Paul erleichtert.
»Lena, ich erwarte ein neues Modell.« Er fühlte sich mies, sie so abfertigen zu müssen. »Wenn du abends keine Zeit hast, kann ich auch auf deiner Baustelle vorbeischauen. In der Mittagspause. Wo arbeitest du gerade? Am Dürerhaus, habe ich Recht?« Er bemerkte ihr resigniertes Lächeln. »Ich meine: Dann gehen wir richtig schön essen. Oder wir trinken zumindest einen Espresso zusammen.« Paul merkte, dass er sich um Kopf und Kragen redete. »Aber selbstverständlich nur, wenn dein Freund nichts dagegen hat. Du bist doch noch mit dem, äh, Wirtschaftsprüfer zusammen?«
Lenas Augenaufschlag war kokett wie der einer Zwölfjährigen. »Nein, bin ich nicht. Außerdem war er Steuerberater.«
»Aber das macht doch nichts«, beeilte sich Paul zu antworten und musste gleichzeitig lachen. Was redete er da für einen Unsinn! Warum konnte ihn Lena nur so leicht aus der Fassung bringen?
Lena lächelte nachsichtig. »Paul, ich bin neununddreißig.«
»Das hört sich ja an wie eine Bankrotterklärung.«
»Auch wenn du aussiehst wie George Clooney, gibt dir das nicht das Recht, dich regelmäßig danebenzubenehmen. Du bist ein instinktloser und gefühlsfremder Ignorant«, sagte sie dennoch mild, und Paul wusste, dass sie ihm auch dieses Mal verzeihen würde.
»Was ist denn, bitte sehr, gefühlsfremd?«, fragte er und lächelte sie an.
»Das Gegenteil von gefühlsecht. Aber von so was hast du wohl auch keine Ahnung.« Lena erwiderte sein Lächeln.
Paul war fast so weit, sie nun doch hereinzubitten. Aber ihm brannte die Sache mit den Fotos unter den Nägeln, außerdem konnte jeden Moment sein Modell auftauchen. Also blieb er, wo er war, und blockierte den Türrahmen.
Lena musste sein Dilemma wohl spüren und hatte offensichtlich keine Lust, sich auf eine längere und aussichtslose Diskussion mit ihm einzulassen. Paul kannte sie, und sie kannte selbstverständlich ihn und seine Trotzigkeit – zu lange, um ihm deswegen böse sein zu können.
»Also gut«, sagte sie und straffte die Jacke ihres Anzugs.
»Dann besuchst du mich auf der Baustelle. Ich bin quasi rund um die Uhr im Dürerhaus.«
Paul griff dankbar nach diesem Strohhalm und wollte ihr gerade einen Abschiedskuss auf die Wange drücken. Doch dann fiel ihm eine Zeitungsmeldung ein, die er vor ein paar Tagen im Zusammenhang mit der Dürerhaus-Sanierung gelesen hatte. Dort hatte gestanden, dass ein Schreiner bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war. »Hat sich bei euch die Aufregung denn wieder gelegt?«, fragte Paul.
»Deswegen bin ich eigentlich da.« Lena biss sich auf die Lippen. So, als schiene sie es plötzlich zu bereuen, vorbeigeschaut zu haben.
»Oh.« Wieder überlegte Paul, ob er sich erweichen lassen und Lena endlich hereinbitten sollte. Unentschlossen, aber mitfühlend sagte er: »Das muss für dich ziemlich viel Stress bedeuten, neben der ganzen Bauplanung nun auch noch diesen Todesfall auf der Baustelle zu haben. Das wirft sicher deine Zeitplanung über den Haufen, oder?«
Lena schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht das Entscheidende. Aber der Mann
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