Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
wählte eine spätere Aufnahme und schaltete das Weißlicht ein. Dann wieder die drei Bäder und der Schritt zur Wäscheleine: Nein, das war kein Kind! Paul starrte gebannt auf das neue Foto. Der zweite Schatten tauchte nun unmittelbar neben dem anderen, größeren auf. Von der Körperhaltung her handelte es sich um eine Frau von schlanker Statur. Sie trug offenbar eine Kapuze – oder war es eine Mütze? Ihre Arme hatte sie angewinkelt, als würde sie gestikulieren. Etwas in ihrer angespannten Haltung ließ Paul vermuten, dass sie sich mit Densdorf stritt. Der hingegen stand unbewegt an der gleichen Stelle wie auf dem ersten Abzug.
Pauls Aufregung steigerte sich. Hastig wählte er ein drittes Motiv aus und vergrößerte es. Kaum hing das Bild tropfnass an der Leine, brachte er die Lupe in Position: Der Umriss der Frau war hier noch klarer zu erkennen. Sie stand jetzt gebeugt da und hielt die Arme über dem Kopf, als wollte sie sich schützen. Der größere Schatten hatte seine starre Haltung aufgegeben: Densdorf hatte seinen rechten Arm gehoben, als würde er zu einem Schlag ausholen.
Paul erschrak. Welche Abgründe taten sich da vor ihm auf! War Densdorfs Tod womöglich die direkte Folge des Streits, den Paul mit seinen Fotos dokumentiert hatte? – Dann wäre es kein Unfall gewesen, sondern Mord.
Pauls Hemd war inzwischen nassgeschwitzt. Er brauchte Luft. Er drückte die Schiebetür der Dunkelkammer auf und ging noch immer nervös und aufgeregt ins Zimmer zurück. Was sollte er als Nächstes tun? Sicher, er musste auch die anderen Fotos genau analysieren. Aber dann, was dann? Er haderte mit sich selbst.
Dann rang er sich zu einer Entscheidung durch: Die Polizei war die richtige Adresse. Er musste die Bilder beim Präsidium abliefern. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, sich sofort auf den Weg zu machen. Denn bis zum Polizeipräsidium war es nur ein Katzensprung, keine Viertelstunde zu Fuß.
Aber beim Gedanken an die Polizei wurde ihm mulmig. Die Ereignisse, die dafür verantwortlich waren, lagen lange zurück, doch es gab nun einmal Dinge, die vergaß man nicht so schnell: Bei Paul war dies seine erste und bisher einzige Nacht in einer Gefängniszelle. Gemeinsam mit einigen Bekannten, darunter auch Lena, war er auf das Bierfest im Burggraben gegangen. Es war Sommer, selbst am Abend hatte es noch über zwanzig Grad. Dreißig Brauereien aus Mittelfranken boten alle erdenklichen Biersorten an. Die Stimmung war ausgelassen und lustig. Sie saßen auf Bierbänken, umgeben von den rosa schimmernden, sandsteinernen Mauern der Burgfestung, beschattet von Kastanien und Eichen. Trotz des Alkoholkonsums ein friedliches Fest. Doch dann tauchte eine Gruppe angetrunkener Männer auf und setzte sich ausgerechnet zu ihnen an den Tisch. Der Ärger ließ nicht lange auf sich warten: Einer der Männer hatte nichts Besseres zu tun, als sich auf dumm-dreiste Art an Lena heranzumachen.
Paul hatte es damals als seine Pflicht gesehen, Lena zu beschützen. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, den Betrunkenen in seine Schranken zu weisen. Aber dann war die Situation eskaliert. Alles war blitzschnell vor sich gegangen: Ein Wort ergab das nächste. Paul sprang auf, sein Kontrahent ebenfalls. Plötzlich prügelten sie sich, wildfremde Frauen kreischten – und dann kam die Polizei.
Von den eigentlichen Störenfrieden war mittlerweile nichts mehr zu sehen, doch der Ordnung halber musste die von Passanten alarmierte Streife handeln und stellte Paul zur Rede. Paul war selbst immer noch ziemlich verstört, blutete aus der Nase und hatte erhebliche Schwierigkeiten, den Vorfall zu rekonstruieren. Doch statt nach dem Schläger und seinen Freunden zu suchen, fiel der Polizei nichts Besseres ein, als Paul im Polizeiwagen einem Alkoholtest zu unterziehen. Ein Alkoholtest am Ende eines Bierfestes! – Paul landete natürlich auf dem Revier, und weil seine Kooperationsbereitschaft inzwischen auf null gesunken war, endete die Nacht für ihn hinter Gittern.
Es war weniger der Kater, der ihm am folgenden Tag zusetzte, als vielmehr eine unbändige Wut auf die Polizisten, die ihn eingesperrt hatten. An diesem Tag war in ihm ein tief sitzendes Misstrauen gegen die Ordnungshüter gewachsen, das er bis heute kaum abstellen konnte. Selbst dann nicht, wenn ihn seine Vernunft dazu gemahnte.
Paul schrak aus seinen Gedanken hoch, als es wieder an der Tür klingelte: Diesmal musste es sich um das Mädchen handeln, das sich auf seine Anzeige
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