Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
sie es getan! Musste es ausgerechnet dieses dicke, unsympathische Schwein sein? Ich kann meine Verena noch immer nicht verstehen!«
Paul umrundete den ausladenden Küchentisch im Eilschritt und legte seine Arme um die Schultern seines Nachbarn. »Komm zurück auf den Teppich. Deine Verena war nicht die Jungfrau von Orléans.«
»Ich habe sie geliebt«, beharrte Jan-Patrick, und tiefe Falten zeichneten sich um seinen Mund ab. »Densdorf hatte einen durch und durch miesen Charakter. Er hat sich einen Spaß daraus gemacht, anderen Leuten die Frauen auszuspannen. Für ihn waren sie nur interessant, solange sie gebunden waren. Und danach«, er hob anklagend die Brauen, »hat er sie fallen gelassen. – Aber nun hat er bekommen, was er verdient. Das war die Rache des Schicksals.«
Paul musste noch zwei weitere Achtel leeren, bis er den Küchenchef endlich aus seinen finsteren Gedanken reißen konnte. Schließlich sagte Jan-Patrick etwas, das Paul überraschte, aber auch neue Möglichkeiten erschloss – zumindest dann, wenn die Stadt noch keinen anderen Fotografen für diesen bedeutsamen Tag engagiert haben sollte: »Möchtest du mich auf die Dürerhaus-Eröffnung begleiten und ein paar Fotos schießen? Soviel ich weiß, suchen sie gerade nach jemandem, der die Eröffnungsfeierlichkeiten dokumentiert.«
»Selbstverständlich«, sagte Paul ohne jedes Zögern, wobei sich nicht nur der Geschäftsmann in ihm die Hände rieb.
Schon deutlich besser gelaunt und leicht beschwipst steuerte er auf den Ausgang des Lokals zu. Marlen ergänzte die eisgekühlte Auslage im Eingangsbereich gerade um einen besonders prächtigen Heilbutt, als Paul noch einmal stehen blieb, weil ihm seit einer halben Stunde eine Frage nicht mehr aus dem Kopf ging: »Sag mal, Marlen: Du kanntest Densdorf doch auch«, begann er vorsichtig.
Marlen lächelte wie immer charmant, aber unverbindlich: »Sicher.«
Paul stützte sich mit seinen Ellbogen auf der Vitrine ab.
»Kann ich dich etwas fragen?«
»Sicher«, wiederholte Marlen, wobei ihr Grinsen breiter wurde.
Paul suchte nach den richtigen Worten und begann: »Densdorf war – trotz seines Jobs und seiner gesellschaftlichen Stellung – im Grunde genommen ein dickes, abstoßendes Ekelpaket. Wie um alles in der Welt kommt es, dass sich offensichtlich die komplette Nürnberger Damenwelt mit ihm eingelassen hat?«
»Moment, Moment«, wehrte Marlen mit neckischem Kichern ab, »nicht die komplette Damenwelt. Einige von uns haben Geschmack.«
Paul erwiderte ihr Lächeln. »Aber im Ernst: Kannst du mir sagen, was dieser Antityp an sich hatte?«
Marlen wurde ernster. »Ach, Paul«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Es ist doch immer wieder das alte Spiel: Macht macht nun mal sexy. Und Macht hatte Densdorf in seiner Position mehr als genug. Außerdem sah man ihn dauernd in der Zeitung, was seine Anziehungskraft auf die eine oder andere bestimmt auch gefördert hatte.«
»Das kann aber doch nicht alles gewesen sein«, zweifelte Paul.
»Ich denke, der entscheidende Punkt war seine enorme Selbstsicherheit. Densdorf war ein Mann, dem man einfach alles zugetraut hat. Er war jemand, der nicht lange gefragt hat, sondern handelte.«
»Du sprichst von Charisma«, folgerte Paul.
»Ja«, sagte Marlen bestimmt, »wenn einer Charisma gehabt hat, dann war es Densdorf.«
7
Der Schwung, mit dem er die Öffnung des After-Shave-Flakons über seine Handfläche hielt, ließ sie mit Égoiste von Chanel überfluten. Warum mussten die Dosieröffnungen bloß immer so überdimensioniert sein? Wohl, um den Verbrauch zu steigern, argwöhnte Paul. Er klatschte den Duft auf seine Wangen und betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken seines Badezimmers.
Er posierte ein wenig vor sich selbst und setzte dabei ein überzogenes Zahnpastalächeln auf. Eigentlich gar nicht so schlecht, was er da sah. Dennoch stimmten ihn die grauen Haare mehr und mehr nachdenklich. Sie mochten ja auf einige Frauen interessant wirken. Trotzdem waren sie in erster Linie ein Zeichen des nahenden Alters. Alt sein bedeutete für Paul eine sich durch nachlassende Attraktivität von selbst einstellende Enthaltsamkeit und die dadurch erzwungene Besinnung auf die eigentlichen Tugenden. Doch worin bestanden diese Tugenden?
Paul fiel ein Satz von Thomas Mann ein, den er sich besonders eingeprägt hatte, als er Mann gerade im Wechsel mit Orwell gelesen hatte: »Nur der Spießbürger glaubt, dass Sünde und Moralität entgegengesetzte Begriffe
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