Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
gezogen, die gerade den Raum betrat und ihn an eine Zeitreise denken ließ: Die Frau trug ein braunes Leinenkleid, eine altertümlich biedere weiße Bluse und eine Kopfbedeckung, die vage an eine Kochmütze erinnerte. Sie kam lächelnd auf ihn zu und brachte Paul völlig aus dem Konzept, als sie sich höflich vorstellte: »Dürer. Agnes Dürer. Fühlen Sie sich bei mir wie zu Hause«, sagte sie mit der vornehm leisen Stimme einer älteren Edeldame.
Paul schaute sich hilfesuchend nach Dr. Winkler um. Der grinste nur.
»Das war auch so eine Idee von Lena Mangold. Unsere Architektin und Projektleiterin versteht sich eben nicht bloß auf die Kulisse.«
Frau Dürer zwinkerte aufmunternd. »Ich bin das lebende Inventar. Leihgabe des Schauspielhauses. Und ich muss sagen, das hier verspricht eine sehr vielseitige Rolle zu werden.«
»Sie übernimmt die Führungen«, ergänzte Winkler. »Das gibt dem Ganzen einen individuellen Touch, den andere Museen nicht haben.«
»Mit der echten Agnes möchte ich allerdings nicht tauschen«, übte sich die Schauspielerin aufgekratzt in ihrer Rolle. »Albrecht rührt keinen Finger im Haushalt. Dauernd die vielen Gäste, und an mir bleibt die Hausarbeit hängen«, die vermeintliche Agnes Dürer knickste zum Abschied und entfernte sich wieder in den hinteren Teil der Tenne.
Lebendiger konnte Geschichte wohl nicht sein. Paul beglückwünschte Lena gedanklich zu ihrer Leistung, von der er bisher doch lediglich den Eingangsbereich gesehen hatte.
Der Adlatus des Bürgermeisters ging in Richtung Treppenhaus und bedeutete Paul, ihm zu folgen. Baufolien hingen von der Decke, Handwerker waren damit beschäftigt, das Geländer abzuschleifen.
»Das wird terminlich aber knapp«, bemerkte Paul.
Dr. Winkler zuckte die Schultern. »Leider ja. Sehr knapp sogar. Wir sind durch das unerwartete Ableben unseres Schreinermeisters in enorme zeitliche Bedrängnis geraten.«
Gestelzter hätte man es nicht ausdrücken können, dachte sich Paul. Aber das passte zu Winkler. Alles an ihm war aufgesetzt. Die Art, die Frisur, selbst der steife Anzug wirkte trotz der vorgeschobenen Jugendlichkeit gequält seriös, seine Zuvorkommenheit konnte dies nicht überspielen. Beim Passieren eines Raums zögerte Winkler plötzlich. Er schien mit sich zu hadern, ob er einen Abstecher machen sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck.
»Hier«, sagte er mit belegter Stimme und schob eine blickdichte Folie beiseite, mit der der Türrahmen verhängt war, »hier ist es passiert.«
Paul sah einen völlig leeren, weiß getünchten Raum mit einer Fensterreihe vor sich. Die altgrün getönten Butzenscheiben waren aufgeklappt, so dass eine freie Sicht auf das gegenüberliegende Wohnhaus möglich war. Der Raum war licht und freundlich. Nichts deutete auf den grausamen Unfall hin, der sich vor wenigen Tagen zwischen diesen vier Wänden ereignet hatte. Doch dann fiel Pauls Blick auf die ebenfalls in freundlichem Weiß gehaltenen Bodendielen. Das frisch gebeizte Holz wies genau in der Mitte des Raums einen großen, hellbraunen Fleck auf. »Das ist doch nicht etwa …«
»Doch«, sagte Winkler mit bedauerndem Nicken. »Der Boden war noch nicht versiegelt, als es passierte. Da hilft auch wiederholtes Abschleifen und Polieren nichts. Der Fleck bleibt. Ein Mahnmal.«
Paul schluckte schwer, als er sich dem makabren Zeugnis des Unglücks näherte. Der Fleck wirkte wie eingebrannt. Er beugte sich hinab und sah, dass die dunkle Verfärbung tief in die feine Maserung des Holzes eingedrungen war. Nur an den offenbar neuen, glänzenden Nägeln, mit denen die Dielen an dieser Stelle befestigt waren, war das Blut nicht haften geblieben.
»Ja, es ist schlimm: Genau an dieser Stelle ist er ums Leben gekommen«, sagte Winkler salbungsvoll, als er sich am Rand der Verfärbung positioniert hatte. »Erschlagen, wahrscheinlich von einem nicht abgesicherten Balken. Eine verhängnisvolle Fahrlässigkeit – was für ein Leichtsinn für einen Profi.« Er seufzte eine Spur zu theatralisch und schaute nachdenklich aus dem mittleren der drei Fenster. »Was für eine böse Ironie des Schicksals es doch ist, dass kurz darauf auch unser Tourismusamtsleiter auf so tragische Weise ums Leben kam.«
»Hm«, Paul nickte etwas irritiert über den plötzlichen inhaltlichen Schwenk.
Winkler sagte mit düsterem Blick: »Nun – Sie haben ja noch ganz zuletzt für ihn gearbeitet.« Er mied Pauls Blick, als er fortfuhr: »Sie haben doch nichts dagegen, uns die
Weitere Kostenlose Bücher