Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
Faserspuren an den beiden Leichen gesichert worden waren, würde er sich mit der Übergabe seiner Negative an den Bürgermeister selbst zum Mittäter machen. Das stand im krassen Gegensatz zu seinem Vorhaben, den Fall aufzuklären.
Er ging mit schleppendem Schritt ins Badezimmer, klappte seinen Rasierspiegel auf, schäumte Kinn, Wangen und Hals ein und verschob die Antwort auf diese und die anderen Fragen auf ein anderes Mal.
Die vierte Frage duldete dagegen keinerlei Aufschub: Wie sollte er die Miete für diesen Monat bezahlen? Der Auftrag für die Dürerhaus-Eröffnung stand auf wackligen Füßen und von Hannah war kein Geld zu erwarten.
Mit der Zahnbürste im Mund schlurfte er ins Atelier zurück. Er addierte und subtrahierte diverse Eurosummen, kam am Ende jedoch mit deprimierender Gewissheit immer bei der Null an. Der Einzige, von dem er zur Zeit verlässlich Honorare erwarten konnte, war Blohfeld. Aber auch das nur dann, wenn er etwas Neues lieferte oder sich ihm anbot, ihm erneut zu assistieren.
Paul stand inmitten seiner Wohnung und begann, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Er schloss die Augen, suchte nach angenehmen Gedanken und sah sich schließlich auf einer grünen Sommerwiese liegen, vor sich einen gebogenen Grashalm, über den ein Marienkäfer krabbelte. Er konzentrierte sich auf dieses Bild, und es gelang ihm, die Zahlen aus seinem Kopf zu verbannen.
Als er die Augen Minuten später wieder öffnete, hatte er sich von seinem ursprünglichen Standort um einiges entfernt und stand nun vor seinem Bücherregal. Ihm stach eines seiner früheren Lieblingsbücher über Albrecht Dürer ins Auge, und er nahm es aus dem Regal.
Als er es aufschlagen wollte, blätterten die Seiten von selbst bis zu jener Stelle, an der der Buchrücken durchgedrückt war: Vor ihm tat sich Dürers Liegender weiblicher Akt von 1501 auf. Er betrachtete eine antiquiert dargestellte, aber auch nach heutigen Maßstäben attraktive Frau, die ihm auf der Seite liegend und auf dem linken Arm abgestützt ihr Profil darbot. Die Frau, nur in Graustufen abgebildet, hatte kleine Brüste, recht kräftige Schenkel und ein Bäuchlein, das sie nicht etwa verbarg, sondern unbekümmert zur Schau stellte.
Dürers vielfältige künstlerische Auseinandersetzung mit dem Akt und die innere Freiheit, mit der er an die Gestaltung des menschlichen Körpers herangegangen war, waren ungeheuer innovativ, fand Paul.
Paul blätterte um. Eine stehende und bis auf ein Kopftuch ebenfalls nackte Frau winkte ihm zu: Dürers Weiblicher Akt von 1493. Paul wusste, dass das Bild als die erste erhaltene Aktdarstellung eines deutschen Künstlers galt, die nach einem lebenden Modell gezeichnet worden war.
Die nächste Seite brachte einen weiteren revolutionären Tabubruch: den Sündenfall von 1510. Dürer hatte es als Erster in der Kunstgeschichte gewagt, Adam und Eva als erotisches Liebespaar darzustellen.
Paul bewunderte die Bilder und doch sah er sie in seiner aktuellen Lage mit anderen Augen als früher. Er stellte sich die Reaktionen auf Dürers Veröffentlichungen vor und die Anfeindungen, denen er in seiner prüden Umgebung ausgesetzt gewesen sein musste – wenn selbst Paul im einundzwanzigsten Jahrhundert recht häufig auf Vorbehalte wegen seiner Aktfotografie stieß, wie mochte es dann erst zu Dürers Zeiten gewesen sein!
Wirklich radikale Zeichnungen hatte Dürer wohl niemals herausgeben dürfen, denn da hätte sicher schon seine Agnes einen Riegel vorgeschoben. Doch wer weiß, sponn er den Gedanken weiter, vielleicht hatte es ein Kabinett der selbst zensierten Dürer-Werke gegeben. Gut versteckt und sorgsam gehütet. Paul beugte sich noch etwas tiefer über das Dürer-Buch. Doch dann sah er sein Spiegelbild in der gläsernen Platte des Couchtisches und musste lachen: Ein Mann mit vor Aufregung geröteten Backen und ziemlich zerzausten Haaren glotzte ihn an. Paul, sagte er sich, du verrennst dich schon wieder in eine fixe Idee. Kaum ist eine Spur erkaltet, springst du auf die nächste an, und das Ganze bringt dir keinen müden Euro.
Er legte das Buch beiseite und beschloss an die frische Luft zu gehen, um wieder einen etwas klareren Kopf zu bekommen. Bei dieser Gelegenheit konnte er auf einen Sprung bei Pfarrer Fink hereinschauen und mit ihm über dessen rabiaten Untermieter sprechen, womit sich Pauls Problem Nummer zwei eventuell gleich lösen ließe.
Mit neu erwachtem Tatendrang brachte er aber zunächst eine andere wichtige Angelegenheit
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