Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
Bewusstsein, wie wenig von Dürers Vermächtnis seiner Heimatstadt verblieben war. Kaum eines der berühmten Originale befand sich noch in Nürnberg. Das Erbe war weit verstreut über den Globus. Vieles verschollen oder über dunkle Kanäle verschoben.
In Gedanken ging Paul die Möglichkeiten durch, echte Dürer-Werke erleben zu können. Mögliche Stationen: der Louvre in Paris, wo das Selbstporträt mit zweiundzwanzig hing. Die National Gallery in London mit dem Porträt von Dürers Vater kurz vor dessen Tod 1497. Die Uffizien in Florenz mit der Anbetung der Könige von 1490. In der National Gallery Washington die Madonna mit Kind. Die weltbekannten Vier Apostel in der Alten Pinakothek in München. Und und und.
Die typischen Nürnberger Krämerseelen waren für den Ausverkauf ihres Großmeisters verantwortlich gewesen, denn Dürer hatte sich schon früh als gewinnbringender Exportschlager erwiesen. Die Vier Apostel hatte Dürer der Stadt vermacht, der Ältestenrat hatte das Werk aber schon 1627 an München abgetreten. Dem englischen König überließ man 1636 bereitwillig das Porträt von Dürers Vater.
Auch nicht schlecht die Story vom Selbstbildnis im Pelzmantel, über das Paul gerade las: Ein findiger Geschäftsmann verhökerte das Meisterwerk 1801 für sechshundert Gulden nach München – Nürnberg behielt bloß eine Kopie.
»Das war’s auch schon«, dachte er laut. Bilder für viele, viele hundert Millionen Euro waren weit verstreut, machte er sich klar. In Nürnberg selbst waren seines Wissens nach lediglich sieben Dürer-Originale verblieben: das Bildnis Barbara Dürer, geborene Holper, die Mutter Dürers also. Die Beweinung Christi, entstanden zwischen 1498 und 1500. Dann Herkules im Kampf gegen die stymphalischen Vögel von 1500, das Idealbildnis Kaiser Karls des Großen von 1511 bis 1513 und Bildnisse von Kaiser Sigismund, Kaiser Maximilian und von Dürers Lehrer Michael Wolgemut, allesamt entstanden zwischen 1511 und 1519.
Er setzte sich auf die Truhe in seinem Flur. Betrachtete die wie Phönix aus der Asche auferstandene Mokkabraune. Seine Lebensgeister erwachten, und er beschloss aktiv zu werden: Sein Telefon steckte – erstaunlicherweise – in der Basisstation und war voll aufgeladen. Er wählte die Nummer von Victor Blohfeld.
Der andere meldete sich erst nach langem Tuten, und eine Veränderung der Tonlage des Ruftons signalisierte ihm, dass der Anruf auf ein Mobilfunknetz weitergeleitet worden war.
Blohfeld erklärte knapp, dass er gerade in einem überfüllten Raucherabteil des ICE München-Nürnberg saß. Er sagte unmissverständlich, dass er den Anruf nur widerwillig entgegennahm, denn der Tag, der hinter ihm lag, ließe sich für ihn nur mit der konkreten Aussicht auf eine Flasche teuren Rotwein aus seinem Weinkeller und ein Entspannungsbad mit einer guten Havanna als Begleiterin retten.
Paul erkundigte sich vorsichtig nach dem Grund für die schlechte Laune des Reporters. Der schien seine Unwilligkeit zu telefonieren augenblicklich vergessen zu haben und holte weit aus: »Lassen Sie es mich einmal so ausdrücken: Ich trage einen Anzug samt korrekt gebundener Krawatte, was nicht unbedingt der Standardkleidung eines Boulevardreporters entspricht. Na, dämmert es jetzt bei Ihnen?«
Paul hatte keinen blassen Schimmer, auf was Blohfeld hinauswollte.
Der wurde konkreter: »Ich habe mich dazu hinreißen lassen, ein Vorstellungsgespräch in Rosenheim zu führen. Als Lokalchef der dortigen Provinzgazette wollte ich würdevoll und gut bezahlt meinem Ruhestand entgegenschreiben. Die Sache war mir bombensicher erschienen. Den Rosenheimern hätte gar nichts Besseres passieren können, als einen Mann von meinen Qualitäten beschäftigen zu dürfen.«
Paul konnte sich lebhaft ausmalen, wie Blohfeld gedanklich bereits ausgiebig die Vorzüge der Rosenheimer Gastlichkeit und die Reize der Landschaft genossen hatte, während er seine Mitarbeiter den angestaubten Lokalteil auf Vordermann bringen lassen wollte. Paul, angenehm überrascht von Blohfelds seltener Offenheit ihm gegenüber, konnte eine gewisse Schadenfreude nicht unterdrücken. Denn er ahnte bereits das Ende der Geschichte.
»Die haben nichts verstanden. Die haben weder meine Kompetenzen als Journalist noch meine herausragenden organisatorischen Befähigungen, weder meine Kenntnisse in Menschenführung noch meine Vita mit großer Zeitschriftenvergangenheit in Hamburg gewürdigt«, ärgerte sich Blohfeld am Telefon.
»Zumindest der
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