Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
Chefredakteur, ein graumelierter Langweiler in meinem Alter, hat mir die gebührende Wertschätzung entgegengebracht. Aber der Personalchef, ein Sturkopf von höchstens Mitte dreißig, ist mir mit Fragen auf den Leib gerückt, die unter aller Würde waren.«
Das Gespräch war Blohfeld zufolge alles andere als einvernehmlich verlaufen. Jetzt, im Zug zurück nach Nürnberg, zweifelte er offenbar mehr denn je an seinem Beruf und an dem, was dieser Job aus ihm gemacht hatte. Paul konnte sich nur zu gut in ihn hineinversetzen.
Paul wechselte das Thema: »Ich wollte vorschlagen, dass wir uns mal wieder treffen. Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns abstimmen, wie wir weiter vorgehen sollen.«
»Ja!«, schnauzte Blohfeld noch immer gereizt in sein Handy. »Wir werden uns heute Abend treffen und dann weiterreden.«
Er gab den Treffpunkt durch. Die Verbindung war gleich danach beendet und Paul war sich nicht sicher, ob der andere ohne Abschiedsgruß aufgelegt hatte oder ob das Netz bei der Durchfahrt eines Tunnels zusammengebrochen war.
Blohfeld würde in schätzungsweise einer Stunde in Nürnberg eintreffen. Genug Zeit, um noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Paul zog sich seinen Mantel über und ging hinunter zum Obststand. Dort wurde er offenbar schon erwartet.
»Es ist gut, dass ich Sie sehe, Herr Flemming.« Seine Obstverkäuferin streckte ihre Arme aus. In den Händen hielt sie eine schwere, prall gefüllte Plastiktüte, durch die das kräftige Orange frischer Südfrüchte schimmerte und aus deren Öffnung die harten grünen Blätter einer Ananas ragten. »Nehmen Sie! Sie waren seit Tagen nicht mehr bei mir einkaufen. Vitamine sind sehr wichtig, besonders jetzt im Winter!«
Verlegen nahm Paul die Tüte entgegen und holte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche.
»Nein!« Die Obstfrau griff Paul am Ärmel. »Ich wollte Ihnen etwas Wichtiges sagen.« Als müsste sie sich weiter rechtfertigen, holte sie aus: »Nachbarn müssen sich ja helfen. Das hat nichts damit zu tun, dass Sie ein guter Kunde bei uns sind.«
»Was möchten Sie mir denn sagen?«, fragte Paul.
»Dass dieser tote Obdachlose – der aus der Kirche – vor seinem Tod um Ihr Haus gestrichen ist. Ich habe ihn mehrmals beobachtet und überlegt, ob ich die Polizei anrufen sollte. Es sah ganz so aus, als ob er bei Ihnen einbrechen wollte.«
»Vielen Dank«, sagte Paul für diesen verspäteten und damit wertlosen Hinweis.
»Bitte. Entschuldigung, aber Sie sollten noch etwas wissen: Der Stadtstreicher war nicht allein.«
»Hatte er etwa seine Kumpels dabei, als er bei mir eingestiegen ist?«, fragte Paul jetzt interessierter.
»Nein, nein.« Die Obstfrau trat unsicher einen Schritt zurück und zupfte verlegen an ihrem Kittel. »Es war so, dass er sich einmal an eine Besucherin gehängt hat, die in Ihr Haus ging.«
»Na ja«, wiegelte Paul ab, »das ist ja nicht allein mein Haus, leider. Hier leben sechs Parteien. Kann schon sein, dass ihn jemand aus Unwissenheit eingelassen hat.«
»Unwissend sah die Frau nicht aus.«
»Kannten Sie sie?«
Die Obstfrau trat noch einen Schritt zurück. »Nein. Jedenfalls nicht direkt. Vielleicht würde ich sie wiedererkennen. – Aber ich muss jetzt weiterarbeiten.« Sie deutete auf die Tüte, die sie Paul gegeben hatte. »Geben Sie den Orangen Raum zum Atmen. In der Heizungsluft schimmeln sie sonst leicht.«
Paul ging wortlos und sah sich nach einigen Metern noch einmal um: Am Gemüsestand standen bereits zwei neue Kundinnen, denen sie sich sofort mit entschuldigenden Gesten widmete. Er beobachtete, wie sie sich die Handschuhe auszog, um die Äpfel, Mandarinen und Kiwis besser greifen zu können.
Wer diese Unbekannte wohl war, über die sie gesprochen hatte? Er fragte sich, ob die Unbekannte den Stadtstreicher tatsächlich bewusst in sein Haus eingelassen hatte oder doch nur von ihm überrumpelt worden war.
27
Der Treffpunkt, den Blohfeld für die Verabredung am Abend gewählt hatte, passte aus Pauls Sicht zum halbseidenen Charakter des Reporters. Paul ließ die Leuchtreklamen der Etablissements in der Luitpoldstraße mit einem Schmunzeln auf sich wirken. Die neonbeschienenen Schenkel, die in verlockendes Rot getauchten Dekolletees und die anderen bilderreichen Botschaften in den Schaufenstern buhlten um Kundschaft.
Aus einem irischen Pub wankten ihm drei heftig betrunkene junge Männer entgegen, ihrem Aufzug nach zu urteilen Mitglieder einer Studentenburschenschaft. Ihre rosigen Wangen glühten, als sie
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