Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
Studienzwecken beschäftigt hat – er hat sie geraucht.«
Paul lachte erneut, doch der Pfarrer fuhr unbeirrt fort. »Man hat in Schafgarbe und Breitwegerich stimulierende, bewusstseinserweiternde Substanzen nachgewiesen.« Über Finks verschmitzten Gesichtsausdruck legte sich mit einem Mal ein nachdenklicher Zug. »Der verstorbene Stadtstreicher war wohl ähnlich experimentierfreudig«, sprach er auf die Tragödie in seiner Kirche an. »Armer Kerl. Er hat dermaßen beeindruckende Qualitäten an den Tag gelegt, dass er bei Dürer in die Lehre gegangen sein könnte – und dann folgte dieser selbstverachtende Abstieg …«
Paul sah ihn skeptisch an. »Wenn er wirklich so gut gewesen wäre, wäre es wohl kaum so weit mit ihm gekommen.«
Fink hob die Hände. »Täusch dich nicht in ihm, nur weil er dich einige Male ein wenig grob angefasst hat.«
»Grob angefasst?«, fragte Paul empört. »Das ist die Untertreibung des Tages!«
»Er war eine echte Koryphäe. Er hatte sein Studium mit recht guten Zwischennoten gemeistert, bevor er es abbrach. Er hätte später sicher gute Berufschancen gehabt. Wenn ihm nicht sein Hang zum Trinken und was weiß ich für Drogen im Wege gestanden hätten. – Und seine impulsive Art.«
»Unter impulsiv verstehe ich etwas anderes«, entgegnete Paul. »Der Kerl war völlig überspannt. Der wäre zu allem fähig gewesen.« Er versuchte sich ein stimmiges Bild von dem toten Stadtstreicher zu machen, scheiterte aber. »Vor allem finde ich es fragwürdig, dass ausgerechnet ein verhindertes Kunstgenie – ein Feingeist also – zu einem Einbrecher und Schläger mutiert.«
Nachdenklich geworden fragte er: »Gibt es denn irgendwelche Neuigkeiten?«
Fink nickte heftig: »Und ob: Jedes Mal, wenn ich mich die tausendundeine Stufe auf den Dachboden hochquäle, entdecke ich neue Vermächtnisse unseres Kunststudenten, die die Polizei übersehen hat.«
»Suchst du denn etwas Konkretes?«
»Weiß ich selbst nicht genau. Aber dieser Fall – im doppelten Sinn – lässt dem Landesbischof keine Ruhe. Du weißt, er ist selbst Nürnberger, und dass sein Amtssitz in München liegt, hält ihn nicht davon ab, uns genauestens zu beobachten.«
»Deine Kircheninterna in Ehren – aber was genau hast du entdeckt?«
»Dürer«, sagte Fink lapidar. »Jede Menge Dürer. In jeder Ausführung. Stümperhafte Kopierversuche. Erbärmlich laienhafte Nachahmungen des Hasen und der Betenden Hände. Und dann immer gekonntere Zitate. Dicke Skizzenblöcke mit Dürer-Motiven, die sich dem Strich des Meisters immer mehr angleichen. Heute früh bin ich auf Das Rosenkranzfest gestoßen. Nicht koloriert, aber die Konturen sind vom Original kaum zu unterscheiden. Er muss ein absoluter Dürer-Fan gewesen sein.«
Mit schwerem Quietschen öffnete sich die Tür des Seiteneingangs. Eine Frau mit rotblondem, kurzem Haar und lebendigen Augen kam ihnen entgegen. Hinter ihr ragten bereits die Köpfe einer Reisegruppe neugierig durch den Türspalt.
»Wir müssen gehen«, beendete Fink das Gespräch mit Paul. »Eine Führung. Wir sind im Weg.«
26
Paul flickte endlich die Mokkabraune. Er hatte sie – oder besser: ihre Reste – von der Wand genommen, die zerrissenen Fetzen Fotopapier wie ein Puzzle neu zusammengefügt und war nun dabei, sie auf einen großformatigen Karton zu kleben. Ein neuer Abzug in dieser Größe war ihm zu aufwendig, außerdem liebte er das Original.
Dieses Puzzeln war eine Vorbereitung auf eine weit größere Herausforderung. Eben auch ein Puzzle. Aber ein gigantisches. Eines, das mehrere Jahrhunderte überspannte. Paul hatte beschlossen, sich an diesem sonnigen, wenn auch weiterhin eiskalten Vormittag auf eine Wallfahrt um die Welt zu begeben. Ausgangspunkt war die Stadt, die er durch die großen Fenster zu seinen Füßen liegen sah und die in klirrendem Frost erstarrt war. Nur wenige Menschen wagten sich auf die Straßen. Und diese wenigen waren mit Ohrenschützern und bis zu den Augen hochgezogenen Schals bis zur Unkenntlichkeit vermummt.
Er wandte sich seinem Schreibtisch zu. Er hatte alle neuere Literatur, die er zum Thema Dürer finden konnte, und sämtliche relevanten Internetinformationen vor sich liegen. Dürer war ein Kosmopolit und Visionär gewesen, der ein Zeitalter geprägt hatte, das bis in das heutige hineinreichte. Wieder einmal erschloss sich Paul eine völlig neue Persönlichkeit aus der Lektüre der Porträts, Abhandlungen und Lithographiesammlungen.
Paul drang immer stärker ins
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