Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
stand Paul dort, wo es ihn so zwingend hingetrieben hatte. Er streckte die rechte Hand aus und berührte den grobporigen, rosa schimmernden Sandstein mit den Fingern. Die Giebelwand aus seemannskistengroßen Quadern ragte stolz und wuchtig vor ihm auf. Ein gemauertes Dreieck, an den Ecken und Kanten stark lädiert, aber auch nach Jahrhunderten Zeugnis trotziger Standfestigkeit.
Paul stand vor dem Giebel der alten romanischen Kirche. Der längst vergessenen Kirche in der Kirche.
»Was genau suchst du?«, fragte Fink und beobachtete, wie sein Freund auf allen vieren um den Sockel der Mauern kroch.
»Ein ganz bestimmtes Bild«, ächzte Paul, als er sich seine Hose auf dem rauen Fußboden aufriss. »Dein Ex-Untermieter muss mehr hinterlassen haben als die Skizzen, die du gefunden hast.« Er las eine rostige Stahlstrebe vom Boden auf und stocherte damit in den Löchern, mit denen der Sandstein übersät war. »Er gab sich alle Mühe, ein perfekter Kopierer von Dürer-Werken zu werden.«
Fink nickte. Er holte aus einem Vorsprung neben der Feuertür eine Stablampe, mit der er Paul die Suche erleichtern wollte.
»Warum treibt jemand, der jeden Ehrgeiz längst über Bord geworfen hat, einen solchen Aufwand? Die vielen Zeichnungen, die überall rumlagen – das waren Fingerübungen. Aber ich bin sicher: Der Tote hat das, was er erreichen wollte, geschafft. Er hat es uns hinterlassen. Wir müssen es nur finden.« Paul hatte den Boden abgesucht und machte sich nun daran, die Nischen in Kniehöhe zu untersuchen.
Zwei Stunden, die Paul den armen Fink geduldig warten ließ, verstrichen. Für die höheren Steinreihen benötigte Paul eine Leiter. Auch die stellte Fink bereitwillig zur Verfügung.
Doch das, was beide schließlich fanden, ließ Paul zweifeln. Ganz oben, im spitzen Winkel des Firsts, lag tatsächlich eine weitere Zeichnung, die offensichtlich aus der Hand des Toten stammte. Aber die war genauso rudimentär wie all die anderen losen Blätter, die Fink in den letzten Tagen auf dem Dachboden aufgelesen hatte. Eine Frau war darauf zu sehen. Im typischen Dürer-Stil gehalten. Die Körperfülle von beinahe barocken Ausmaßen, Perspektive, Linienführung und Detailreichtum deuteten ganz klar auf Dürer hin.
Und doch.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte Fink, nachdem er die erste Enttäuschung, die auch Paul kleinlaut gemacht hatte, überwunden zu haben schien.
Paul hockte ermattet neben dem Pfarrer am Fuß der romanischen Mauer. Im diffusen Licht der Deckenbeleuchtung – die Batterie der Stablampe war mittlerweile leer – musterten beide wieder und wieder die Zeichnung.
»Der Blick von dieser Dame ist ziemlich …«, Fink suchte offensichtlich nach den passenden Worten.
»Lasziv«, sagte Paul.
»Ja«, stimmte Fink zu und zog das Bild näher heran. »Auch die Körpersprache ist selbst für Dürer sehr freizügig. Allzu offene sexuelle Anspielungen hat er normalerweise vermieden. Für die damalige Klientel hat es ja voll und ganz gereicht, die Dinge anzudeuten. Aber das hier – diese Lady ist mehr als nackt.«
»Sie spielt mit ihren Reizen«, sagte Paul und holte sich die Skizze zurück.
»Von denen sie reichlich bieten kann«, sagte Fink. »Möchte nicht wissen, was Agnes gesagt hat, als sie das Bild sah.«
Paul blickte auf. »Musste sie es denn sehen?«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Hat sie es tatsächlich sehen müssen?« Paul durchfuhr ein Ruck. »Hannes – dieses Bild ist zwar nach Dürer-Art gemacht, kupfert aber keines der bekannten Werke ab. Es ist gleich und doch anders.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich denke, es ist abgemalt wie alle anderen Bilder auch, die hier verstreut sind. Aber als Vorlage hat ein unbekanntes Original gedient. Ein Bild, das nicht einmal Agnes Dürer zu Gesicht bekommen hat, weil …«
»Weil?«
»Weil es Dürers Geheimnis bleiben sollte.«
»Du meinst …«
»Ja. Es zeigt seine heimliche Geliebte, seine …«
»… Mätresse.«
32
Auf Paul wartete eine Herausforderung, die er am liebsten nicht angenommen hätte. Aber ihm blieb kaum eine Wahl. Er spielte nicht nur mit in diesem Spiel, sondern war längst Bestandteil davon.
Er richtete sich auf. Unter seinem Mantel wurde es warm, doch er dachte nicht daran, ihn zu öffnen.
Paul hatte zwei neue Fragen zu beantworten. Wenn es womöglich wirklich ein Original von Dürers Mätresse geben sollte, wo war es dann? Und warum hatte überhaupt jemand Interesse daran, das Bild zu kopieren?
Seine Wohnung war seit
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