Pauschaltourist
Gleichzeitig empfand ich Verständnis für diesen
Selbstbetrug, konnte ihn teilweise sogar nachvollziehen. Wenn ich ehrlich zu mir war (und das bin ich manchmal), gab es irgendwo
in meinem Kortex auch ein, zwei Gedanken, die sich damit beschäftigten, die anderthalb verbliebenen, ohnehin morschen Hängebrücken
zu kappen und einen Neuanfang zu versuchen. Vielleicht sogar im Ausland. Aber ich verband das nicht mit romantischen Hoffnungen
oder lotteriegewinnähnlichen Karriereerwartungen. Oder der absurden Idee, es in solch einer Gegend zu tun. Und es waren ja
auch nur ein, zwei Gedanken …
Barbara händigte einem Kellner ihre Kreditkarte aus. Während wir auf den Unterschriftsbeleg warteten, sah ich zum Fenster,
was ich besser hätte bleiben lassen. Ich drehte mich sofort wieder weg, aber der vorbeieilende osteuropäische Mann mit den
grün-braun schillernden Schlagmalen an Gesicht und Hals hatte just in diesem Moment hereingeschaut – suchend, wenn mein kurzer
Eindruck nicht trog. Und er war in Begleitung; die zwei Schatten hinter ihm stammten jedenfalls nicht von Sonnenschirmen.
Der Ober kam zurück, ließ sich von Barbara quittieren und sah dabei ebenfalls aus dem Fenster, das sich direkt hinter mir
befand. Er lächelte und begrüßte jemanden mit einem Nicken, dann bekam sein Gesichtsausdruck etwas Fragendes. All das geschah
in so kurzer Zeit, dass ich meine Gedanken, die von Fluchtimpulsen beherrscht wurden, kaum zu Ende bringen konnte. Und jetzt
drehte auch noch Nina ihren Kopf in die gefährliche Richtung. Erbleichen war nicht mehr möglich, dafür war sie inzwischen
zu braun, aber diesen Gesichtsausdruck kannte ich von vier Starts und drei Landungen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund.
|276| »Sind wir hier drin sicher?«, fragte sie leise und mit zitternder Stimme.
»Der Typ wird uns umbringen«, stellte ich fest und schüttelte dabei den Kopf.
Nina zog ihre Handtasche auf den Schoß. Ihr Blick huschte zwischen Fenster und Tasche hin und her. Schließlich hatte sie das
Telefon in der Hand.
»Wie heißt das Restaurant?«, fragte sie, und ich schob ihr die Visitenkarte zu, die mit dem Kreditkartenbeleg gebracht worden
war. Nina nickte, beugte sich zur Seite. Irgendwas stimmte nicht. Ich drehte mich um, die Spießgesellen waren weg.
»Zwei trugen Uniformen«, flüsterte meine Kollegin.
»Uniformen?«
Sie nickte und tickerte dann hypernervös auf ihrem Telefon herum. Großer Gott. Selbst wenn sie Nicky und damit Ger erreichte,
was, wie ich annahm, ihr Plan war – der holländische Nahkampfspezialist könnte hier nicht einfach Polizisten umhauen. Außerdem
waren die sicher mit effektiverem Hilfswerk als Butterfly-Messern ausgestattet. Zum Beispiel mit Maschinengewehren. Handgranaten.
Napalm. Was weiß ich.
»Was ist los?«, fragte jetzt Barbara.
Nina hatte eine Verbindung und plapperte drauflos. »Große Scheiße«, antwortete ich der Bielefelderin. »Wäre vielleicht besser,
wenn du dich an einen anderen Tisch setzen würdest.« Nina fuchtelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. Ich sollte leiser
sein. Dann wiederholte sie drei Mal den Namen des Ladens. Inzwischen kam der lädierte Zuhälter, der sich tatsächlich in Begleitung
von zwei Polizisten befand, in seinem lächerlichen (in diesem Moment aber keineswegs
lustigen
) Kinogang auf uns zu, und sein niederländisch markiertes Gesicht zeigte das Grinsen des Zahnarztes aus »Der Marathonmann«.
Er blieb stehen und wies auf mich, dabei sagte er etwas auf Portugiesisch zu den beiden Uniformierten. Jetzt wusste ich, was
»Das |277| ist der Mann« in der Landessprache hieß, auch wenn ich es vor Aufregung niemals hätte wiederholen können.
Nina hatte sich derweil zu Barbara gebeugt und ihr ins Ohr geflüstert. Die stand jetzt auf, hob die Hände und sagte etwas
in deren Sprache zu den Polizisten. Ich fasste es nicht. Dieser verdammte Mack-Wichser hetzte
uns
die Kavallerie auf den Hals. Aus meiner Angst wurde schlagartig maßlose Entrüstung. Ich stand auf, wies auf den Zuhälter und
erklärte dann auf Englisch, meine Stimme mühsam beherrschend, dass es dieser Mann gewesen sei, der uns am Vorabend angegriffen
hätte, und dass übrigens keineswegs ich der Mann gewesen wäre, der darauf reagiert hatte. Die Polizisten runzelten verständnislos
die Stirn.
»Es geht hier nicht um eine Gewalttat«, antwortete einer in gebrochenem, aber leider verständlichem Englisch. »Sie haben gestern
im
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