Pauschaltourist
unendlich leidgetan, aber schneller ging es nicht.«
Ich führte die Hand zum Mund und deutete den Kuss nicht nur an. »Du hast mich gerettet.« Dann sah ich sie an und versuchte,
meine ganze – ziemlich große – Dankbarkeit in einen Blick zu legen.
Für einen Moment lag die Möglichkeit in der Luft, dass aus dem Handkuss ein anderer würde, dass wir unsere Badetücher abstreiften
und übereinander herfielen, dass wir also, verkürzt gesagt, alles zerstörten, was sich während der letzten Wochen zu unser
beider Erstaunen entwickelt hatte, ohne tatsächliches Interesse daran zu haben, etwas miteinander anzufangen. Sex in der Freundschaft
ist genauso wenig möglich wie Liebe ohne Sex. Ich ließ ihre Hand los und zwinkerte ihr zu. Sie nickte, und dann atmeten wir
beide hörbar durch.
|283| »
Das
«, sagte sie in Richtung Meer, »würden wir auf jeden Fall bereuen.«
Ich nickte jetzt auch und wartete noch ein bisschen mit der Frage, die mich schon eine ganze Weile beschäftigte, aber ich
musste die Stimmung einfach nutzen, wenigstens auf diese Art. »Aber jetzt verrätst du mir bitte, warum Sitz die Türkeiwoche
gestrichen hat«, sagte ich schließlich.
Der Schaukelstuhl knirschte, Nina hatte sich aufgerichtet. »Rate.«
»Keine Ahnung«, gestand ich ehrlich und machte eher einen Scherz, als tatsächlich zu raten. »Sitz lässt sich scheiden.«
Weil keine Antwort kam, drehte ich mich zu ihr.
Nina lächelte glücklich.
Die restlichen Tage verbrachten wir im Hotel oder in der unmittelbaren Nähe. Wenn der putzig-clevere Herr Marques alles wusste
und man in diesem Ort ohnehin kein Geheimnis bewahren konnte, würde Mr. Butterfly früher oder später herausfinden, wo wir
wohnten. Wenn er es nicht schon wusste. Nina gab mir ihre Reservedose Pfefferspray. Ich trug es mit mir herum und hoffte darauf,
dass die Rachegelüste des Algarven-Macks durch meine Knastnacht befriedigt waren. Oder dass es ihn einfach nicht mehr interessierte.
Jedenfalls blieben Nicky und Ger bis zu ihrer Abreise – einen Tag nach meinem Gefängnisaufenthalt – unbehelligt. Und wenn
ich einmal einen Schritt aus dem Hotel hinaustrat, sah ich mich wie ein nervöser Geier um, der am Aas herumpickte, aber fürchten
musste, dass der Adler mit seiner Beute noch nicht fertig war und nur eine Pinkelpause eingelegt hatte.
Wir langweilten uns am Pool, Nina trank wenig und arbeitete an der Story über Portugal, Arbeitstitel
Casino Loyal
. Ich las, hörte Mucke und verschob dabei gedanklich meine Lebensbausteine zu alternativen Mustern, aber es entstanden immer
nur neue Baustellen.
|287| 1.
Für den Heimaturlaub war nur ein Tag angesetzt, gleich am nächsten Morgen sollte es nach Ägypten gehen. Weil die Dönerland-Woche
ausfiel, war unser nächstes Ziel allerdings kein Mittelklasse-Tauchclub außerhalb von Hurghada, sondern ein sternearmes Etwas
mitten in der Stadt. Mir war das recht – Hauptsache, es ging weiter. Ich fühlte mich seltsam daheim, ziellos und gelangweilt.
Im Waschsalon, in dem ich meine Urlaubskleidung grundreinigte – das T-Shirt, das ich im Bau getragen hatte, müffelte immer
noch wie ein Marathonläufer zwischen den Zehen –, musterte ich die Alltagsmenschen, kalkweiße, struppige Typen mit dicken
Augenringen, gehetztem Blick und fast schon greifbarer Ungeduld. Auf den Straßen war es ähnlich laut wie an den Orten, die
wir besucht hatten, aber es war ein anderer Lärm. Gnaden- und freudloser. Das Treiben kam mir schrecklich unentspannt vor,
bissig und rücksichtslos, und die von U-Bahn-Wagen zu U-Bahn-Wagen tingelnden Musikermassen, die in zwei Minuten irgendeine
Scheiße herunterdudelten, um danach den apathisch wegschauenden Fahrgästen auffordernd Hüte oder Pappbecher unter die Nase
zu halten, machten mich wütend. Beim Umsteigen wurde ich fast niedergerannt, weil die Leute, die den Zug zu erreichen versuchten,
aus dem ich gerade ausstieg, vollständig ignorierten, dass ihnen andere entgegenkamen – und ich hatte schlicht
vergessen
, wie defensiv, die Gedanken der anderen antizipierend, man sich in solchen Situationen zu verhalten hatte. Es schien für
sie einfach keine Rolle zu spielen.
Ich
, dann
ich
, schließlich
ich
und irgendwann erst sehr viel später
die anderen
. Nie zuvor hatte ich diesen aggressiven Egoismus so intensiv empfunden. Wenn man in einer Großstadt lebt, nimmt man hin,
wie die Einwohner miteinander umgehen. |288| Aber wenn man wie ich wochenlang
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