Pauschaltourist
hatte mehr als dreizehn Stunden geschlafen. Gleich nach dieser Erkenntnis übermannte mich die Erinnerung an
das Gespräch mit Silke. Ich schluckte schwer, kämpfte den Tränendrang nieder, stand auf und ging durch die geöffnete Tür auf
den Balkon. Es dämmerte bereits, war aber noch nicht sehr hell. Das Klatschen kam von unten. Sieben Stockwerke tiefer huschten
graue Gestalten herum, gut und gerne zwanzig, dreißig Leute. Als sich meine Augen ein wenig an das Halbdunkel gewöhnt hatten,
konnte ich sie erkennen: Touristen in Bademänteln. Das Geräusch wurde von den Handtüchern verursacht, die sie aufschlugen,
um mit ihnen Liegen zu reservieren. Gut die Hälfte der von hier aus sichtbaren Liegegelegenheiten war bereits frotteemarkiert.
Ich verspürte den Wunsch »Habt ihr eigentlich alle den Arsch offen?« zu brüllen oder runterzufahren und die gesamten Handtücher
auf einen Haufen zu werfen, um sie zu verbrennen. Aber ich schloss nur die Balkontür, ging ins Bett zurück und heulte mich
in drei weitere Stunden Schlaf.
Der gewaltige Frühstücksraum befand sich im Souterrain des Hotels. Obwohl draußen die Sonne schien, als blieben ihr keine
vier Milliarden Jahre mehr, wurde der obszön große Saal von Neonlampen beleuchtet, die selbst die sonnenverwöhntesten Urlauber
leichenblass erscheinen ließen. Und von diesen tiefbraunen Touristen gab es Hunderte. Das gefühlte Durchschnittsalter lag
bei knapp |53| siebzig, allerdings bestand die Geräuschkulisse neben Tassen- und Tellergeklapper hauptsächlich aus dem Geschrei von Kindern.
Ich wankte durch die Gänge, vorbei an nachlässig komponierten Bufetts, vor denen Gäste auf neue Ladungen Rührei, Croissants
und hitzeschwitzender Würstchen warteten, und hoffte, einen Hinweis darauf zu finden, wie an Kaffee zu kommen war. Dann entdeckte
ich die über den Raum verteilten Automaten. Leider funktionierte erst das vierte Gerät. Und am Ende hatte ich zwar eine gefüllte
Kaffeetasse in der Hand, aber keine Aussicht auf einen Sitzplatz. Viele Menschen irrten umher und suchten entweder den Tisch,
an dem sie bereits gesessen hatten, oder einen freien Platz. Beides war Mangelware. Ich machte ein Pärchen aus, auf dessen
Tisch ein noch unbenutztes Gedeck zu sehen war, und bewarb mich höflich um die Stelle. Die Frau machte eine einladende Geste,
der Mann sah mich nur an, als müsse er mich kennen, ohne zu wissen, woher.
Sie hieß Birgit und war einundvierzig, er Jens und war zwei Jahre älter, wie sie ausführte. Ich nannte ebenfalls Namen und
Alter, weil das hier offenbar Usus war. Jens notierte sich beides auf einem Block, der anscheinend bereits mit ähnlichen Informationen
gefüllt war. Außerdem standen da viele Uhrzeiten.
»Wie lange bleiben Sie?«, fragte Birgit.
»Eine Woche.«
Jens schrieb es auf. Der Kaffee schmeckte äußerst seltsam. Er sah zwar aus wie Kaffee und roch auch danach, sein Aroma aber
stammte von Maggi oder Knorr. Ich verzog das Gesicht und trank tapfer aus.
»Das Zeug ist abscheulich«, erklärte Birgit, und ich nickte. »Sie machen den Kaffee mit entsalztem Meerwasser. Die Anlage
ist schon seit Jahren defekt. Wo kommen Sie her?«
Ich antwortete, Jens schrieb mit. Er hatte eine extrem hohe Stirn und krause graue Haare, die irgendwann mal ziemlich cool
ausgesehen haben müssen. Seine Augen waren groß und sehr braun, und sie erinnerten mich an Bimbo. Der ganze Mann hatte |54| etwas Hündisches, fand ich. Birgit wirkte wie eine müde Hausfrau. Das Pärchen strahlte nicht gerade die handelsübliche Urlaubslaune
aus.
»Warum machen Sie das?«, fragte ich Jens und zeigte auf den Block.
»Er hatte einen Schlaganfall«, antwortete sie für ihn, und es klang, als täte sie das im Stundentakt. »Vor fünf Jahren. Seitdem
funktioniert die Übertragung zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis nicht mehr. Er kann sich an alles erinnern, was vorher
war, aber er kann sich nichts Neues mehr merken. Deshalb schreibt er alles auf.«
Jens nickte langsam und beobachtete mich dabei aufmerksam.
»Oh«, sagte ich.
»Und deshalb kommen wir auch her«, fuhr Birgit fort. »Wir haben hier vor acht Jahren unsere Hochzeitsreise verbracht, da war
das Hotel ganz neu. Jens kennt die Anlage noch gut, er weiß, wo die Bars sind, der Swimmingpool, das Restaurant und so. Wir
haben jedes Jahr dasselbe Zimmer. Wenn ich mit ihm woanders hinfahre, bin ich die meiste Zeit über damit beschäftigt, ihn
zu suchen. Hier
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