Pauschaltourist
sie seien der Traum aller alleinstehenden
Mittdreißigerinnen, dann irrte sie sich meiner Meinung nach gewaltig.
Er
war das Jüngelchen. Vermutlich hatte er reich geerbt. Ich fand ihn irgendwie sympathisch, aber je länger der Abend dauerte,
desto weniger traute ich ihm zu, auch nur einen Euro selbst verdienen zu können. Mein Urteil vom adligen Riesenbaby relativierte
sich insgesamt nur wenig.
Aber Nina fand ihn offenbar ganz süß, zumindest unterhaltsam. Den Großteil des Gesprächs, bei dem es unter anderem um künstliche
Befruchtung (deshalb Zwillinge), aber vor allem um die netten Dinge des Lebens ging (Sie hatten tatsächlich gemeinsame Bekannte
auf Sylt! Wie originell!), führten die beiden ohne mich. Nach Beantwortung der Brillenfrage lehnte ich mich zurück, nippte
an meinem Schnäpschen aus dem Jungpaläolithikum und sah mich um. Das sehr kleine, vom Interieur her eher bescheidene Restaurant
mit nur sechs Tischen und doppelt so vielen Kellnern, allesamt Franzosen, war fast komplett besetzt, und die Figuren an den
anderen Tischen ähnelten eher unserem Gastgeber als Nina oder gar mir. Gespräche wurden sehr leise geführt, wenn man überhaupt |218| sprach. An drei von fünf besetzten Tafeln saßen nobel gekleidete ältere Männer in Begleitung exzellent aussehender, viel zu
junger Frauen. Dann wanderte mein Blick über die Schulter zur Tür, durch die soeben ein sehr ähnliches Paar eintrat. Mir fiel
fast der Schwenker aus der Hand.
Heino Sitz und Marejke Medsger.
Da sofort ein Garçon auf die beiden zustürmte, war ihr Blick in unsere Richtung verstellt. Ich drehte mich zum Tisch zurück.
Nina hatte noch nichts bemerkt, da sie, wie ich auch, mit dem Rücken zur Tür saß. Zwischen ihr und unserem Gönner ging es
gerade um irgendein Fischrestaurant auf der gemeinsamen Lieblingsinsel. Plötzlich lehnte sich von Papening zurück und hob
eine Hand, um jemandem zuzuwinken. Und dann ertönte eine wohlbekannte Stimme: »Oliver!«, dröhnte mein Chefredakteur. »Du hier?«
Nina zuckte zusammen. Als wir uns synchron umdrehten, stand Heino Sitz schon hinter uns.
Fassungslosigkeit war nicht das richtige Wort, aber das erste, das mir einfiel, um mal den genialen Chuck Palahniuk zu zitieren.
Sitz war wie vor den Kopf geschlagen, sah mit irrem Blick zwischen mir und Nina hin und her. Dann drehte er sich um, aber
Marejke Medsger war offensichtlich dabei, sich im Boudoir frisch zu machen. Oliver überbrückte den peinlichen Moment (wovon
er selbst natürlich nichts mitbekam), indem er um den Tisch herumeilte und Sitz herzlich begrüßte. Der schaffte es kaum, den
Blick von Nina und mir abzuwenden, und es war nicht schwer zu erraten, was er dabei dachte: Dieser Planet ist zu klein für
uns drei beziehungsweise vier. Als Oliver uns vorstellen wollte, wurde er von Sitz unterbrochen.
»Ich kenne die beiden«, zischte er. Er war haarscharf davor, durch die Zähne zu pfeifen.
Natürlich hatte er nicht ahnen können, dass ich einen Adligen vor durchgeknallten Müttern retten und deshalb nobel zum Essen
eingeladen werden würde, und auch noch in diesen Insiderschuppen, |219| in dem man vermutlich einen Tisch bereits bei der Geburt reservieren musste. Die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet uns hier
zu begegnen, war geringer als diejenige, einen Thunfisch zu gebären. Und trotzdem stand unser Chef jetzt in diesem riesigen
Fettnapf, direkt vor uns. Ich feixte in mich hinein und freute mich auf den weiteren Verlauf des Abends.
»Tatsache?«, fragte Oliver.
Sitz nickte. »Das sind meine Angestellten«, brachte er hervor, gegen inneren Widerstand.
Erst jetzt sah ich zu Nina, die ja noch nicht wusste, dass ihr Lover in Begleitung gekommen war, wie mir in diesem Moment
klar wurde. Sie war in erster Linie überrascht, aber dann zeichnete sich langsam echte Freude in ihrem Gesicht ab. Ich musste
verhindern, dass sie eine Dummheit anstellte, denn sie war dabei aufzuspringen – sehr wahrscheinlich, um Sitz zu umarmen.
Den Blick ihres Gelegenheitsbesamers missverstand sie offenbar. Gut, Heino glotzte immer noch ziemlich ausgeflippt zwischen
uns hin und her.
»War das Ihre Frau, die ich da eben gesehen habe?«, fragte ich so laut wie möglich.
Sitz sah hektisch zur Tür, dann zu mir. Er nickte energisch, fast dankbar. Nina sank augenblicklich in ihren Stuhl zurück.
»Das ist aber ein hübscher Zufall«, sagte Oliver. »Ihr müsst euch unbedingt zu uns setzen.«
Ninas Lippen
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