Pechvogel: Roman (German Edition)
verbreitet sich von Zelle zu Zelle und beißt sich wie ein tollwütiges Tier mit unersättlichem Hunger in ihm fest.
Und wenn Pech hungrig wird, dann will es fressen.
Ich habe meinem Großvater nicht geglaubt. Bis zum heutigen Tag.
Natürlich habe ich zuerst daran gedacht, einfach Jimmys Hände zu packen, um zu verhindern, dass auch ich auf der Speisekarte lande. Aber als ich jetzt die Tür öffne und den Ausdruck auf Jimmys Gesicht sehe – so voller Erleichterung und Vertrauen –, erkenne ich, dass mein Charme und mein gutes Aussehen allein ausreichen müssen, um aus dieser Situation herauszukommen.
Und bislang hat diese Strategie ja auch wunderbar geklappt.
»Komm schon«, fordere ich den Jungen auf.
Draußen im Flur sind die beiden Schläger verstummt. Ich schaue kurz zu ihnen rüber, wie sie da ohnmächtig auf dem Boden liegen. Zumindest vermute ich, dass sie ohnmächtig sind. Andererseits: So wie der Tag bisher gelaufen ist, würde es mich nicht überraschen, wenn sie sich binnen Kürze in Zombies verwandeln würden.
»Denk dran, hinter mir zu bleiben«, sage ich und drehe mich zu Jimmy um. »Aber bleib dicht hinter mir. Okay?«
Jimmy nickt, nimmt eine seiner Hände vom Starbucks-Becher und zeigt auf mich. »Was ist mit deiner Hand passiert?«
Ich folge seinem Fingerzeig, und erst da fällt mir auf, dass ich den Peet’s-Becher nicht mehr in Händen halte. Habe ich ihn fallen lassen? Es muss so sein, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Vielleicht habe ich ihn ja auch weggeworfen. Oder er hat sich aufgelöst. Aber jetzt ist meine rechte Hand, meine Glücksdieb-Hand, bedeckt mit den Überresten von dem mit Wachspapier überzogenen Recycling-Pappbecher. Und diese Überreste sehen aus, als wären sie mit meiner Hand verschmolzen.
»Mach dir darüber keine Sorgen«, beruhige ich ihn, halte mich aber selbst nicht an diesen Rat. Tatsächlich kann ich mich kaum zusammenreißen und bin kurz davor durchzudrehen. Doch momentan kann ich ohnehin nicht sehr viel dagegen tun – außer zu lernen, mit der linken Hand zu wildern, versteht sich.
Ich nehme den Starbucks-Becher von Jimmy und klopfe vorsichtig meine Tasche ab, um zu prüfen, ob die Phiole noch da und unversehrt ist. Tatsächlich kann ich die Wärme, die sie ausstrahlt, an meinem Oberschenkel spüren und frage mich unwillkürlich, ob es eine gute Idee ist, das Zeug so dicht an meinem Hoden zu haben.
»Bist du bereit, Jimmy?«, frage ich.
Der Junge nickt. Jetzt und hier mit ihm unterwegs zu sein – ohne seine Aufmüpfigkeit und mit diesem Ausdruck bedingungslosen Vertrauens in seinen Augen – lässt mich erstmals erahnen, warum Eltern sich all den Ärger mit dem Bekommen und Erziehen von Kindern aufladen.
Aber dann fällt mir wieder ein, dass Jimmy behauptet hat, ich würde wie Katzenpisse riechen, und das Gefühl der Rührung vergeht.
»Alles klar«, sage ich. »Gehen wir.«
Kapitel 37
W ir schaffen es problemlos an den beiden ohnmächtigen Schlägern vorbei und durch den Flur zum Aufzug. Was mich unruhig macht. Ich weiß nicht, wie viele Leute für Tommy arbeiten, aber die Schreie der Schläger sollten in jedem Fall für Aufmerksamkeit gesorgt haben.
Aber vielleicht ist auch einfach jeder, der für Tommy arbeitet, daran gewöhnt, Menschen schreien zu hören.
Mit dem Rücken zur Tür drücke ich auf den Fahrstuhlknopf und sichere den Flur zu beiden Seiten, während meine lädierte rechte Hand noch immer den Starbucks-Becher umklammert hält. Kurz erwäge ich, mich zu bewaffnen, aber nachdem ich gesehen habe, wie schnell sich schon ein Viertel des Inhalts der Phiole durch den anderen Becher gefressen hat, möchte ich ungern das gesamte restliche Pech in den neuen Becher schütten. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist eine Handvoll Pech mit nassem Starbucks-Kaffeesatz. Außerdem will ich sichergehen, dass ich Tommy im Blickfeld habe, bevor ich irgendetwas unternehme.
Wir stehen also da und warten auf den Fahrstuhl. Oder genauer gesagt: Ich stehe da. Jimmy tritt ständig von einem Fuß auf den anderen.
»Was machst du da?«, flüstere ich.
»Ich muss pinkeln.«
Ich starre ihn nur an. »Du musst wirklich an deinem Timing arbeiten.«
Ich lausche nach dem Geräusch sich nähernder Schritte und werfe einen kurzen Blick zum Fahrstuhl, in der Hoffnung, dass sich dieser beeilen möge.
»Aber ich muss ganz nötig«, sagt Jimmy.
»Dann mach.«
»Hier?«
»Ist ja nicht das erste Mal.«
Stille herrscht auf dem Flur, der
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