Pechvogel: Roman (German Edition)
Unschuld an Hormone, sexuelle Triebe und die Entdeckung der Selbstbefriedigung verloren. Reines Glück wohnt bei denen, die noch an Magie und Helden glauben und daran, dass alles möglich ist.
Ich habe nie Reines Glück gewildert. Habe nie auch nur daran gedacht. Und ich brauche mir nicht einmal diese Mischung aus Verlangen und Abscheu im Gesicht meines Großvaters ins Gedächtnis rufen, um mich diesbezüglich zurückzuhalten. Kindern ihr Glück zu nehmen ist ein Tabu unter Wilderern. Nein, es ist nicht so pervers wie Pädophilie oder Kinderpornographie, aber Kindern ihr Glück zu stehlen hängt doch ein Stigma an. In etwa von der Art, als würde man seinen Hund treten, seine Frau schlagen oder in der Öffentlichkeit masturbieren.
Trotzdem: Fünfhunderttausend Dollar sind eine Menge Geld.
Genug, um damit mindestens fünf Jahre wirklich bequem leben zu können. Genug, um sich einen Weg zu erkaufen, Mandy zu beschützen. Genug, um die Glaubenssätze jedes Wilderers auf die Probe zu stellen. Insbesondere, weil man sich mit dem Stehlen von unbeflecktem Reinem Glück vielleicht das Pech aus dem Körper spülen könnte.
Moralische Dilemmata waren noch nie mein Ding.
Aber ein Kind mit Reinem Glück zu finden ist auch nicht leicht. Unmöglich, genau genommen. Es sei denn, ein Zehnjähriger oder eine Achtjährige tauchen zufällig in den Nachrichten auf, weil sie dem Tod ein Schnippchen geschlagen haben oder eine Glückssträhne hatten. Denn schließlich können Wilderer ja nicht vor Schulen oder Kindertagesstätten herumhängen, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit von Lehrern, Eltern und der Polizei auf sich zu ziehen. Wer sich also Tommy Wongs Belohnung verdienen will, müsste einen klugen Weg finden, damit die Kinder zu ihm kommen. Oder zu ihr.
Auf dem Union Square steht vor dem Dewey Monument in der Mitte des Platzes eine als Clown verkleidete Frau. Kein Zirkusclown oder Killerclown aus dem All, sondern ein freundlicher Clown in hellen Farben, mit blauem Haar und einer großen roten Nase im Stil von Rudolph, dem rotnasigen Rentier aus dem Weihnachtslied.
Sie knotet Ballontiere und verteilt sie an die Kinder, die sich mit leuchtenden Augen und erwartungsvollem Lächeln um sie scharen. Die Chancen stehen gut, dass sie nur ein ganz normaler Mensch ist, der Kinder mag. Eine Lehrerin vielleicht oder eine angehende Schauspielerin, die für ein paar zusätzliche Scheine gern ein paar Ballontiere knotet.
Sie könnte aber ebenso gut eine von Tommys angeheuerten Dieben sein, eine Glückswilderin auf der Jagd nach minderjährigen Opfern.
So wie ich einfach weiß, dass Doug mit Glück geboren ist, können auch andere Wilderer den Energiefluss des Glücks in einem Menschen schon durch den kleinsten Körperkontakt erspüren: durch ein Streifen mit der Hand oder eine andere unabsichtliche Berührung. Es fühlt sich an wie ein ganz leichter elektrischer Schlag. Nichts, bei dem sich die Haare aufstellen oder man überrascht mit der Hand zurückzuckt.
Aber bei weichem Glück höchster Güte genügt es bereits, in Reichweite zu sein, um es zu spüren. Und die elektrische Ladung von jemandem, der Reines Glück in sich trägt, würde ganz sicher eine körperliche Reaktion hervorrufen.
Lachen etwa. Einen Schweißausbruch. Zucken am ganzen Körper. Vielleicht hat man sogar einen Orgasmus. Was man als Frau deutlich leichter kaschieren kann.
Der weibliche Clown jedenfalls achtet zwar darauf, keins der Kinder zu berühren, kommt aber doch dicht genug an sie heran, um sie auf Reines Glück prüfen zu können. Ein paar Minuten beobachte ich sie, aber soweit ich es erkennen kann, lacht sie nicht, zuckt nicht, schwitzt nicht und zeigt auch keinerlei Anzeichen für sexuelle Ekstase.
Was noch immer nicht beweist, dass sie keine Glücksdiebin ist. Es könnte bloß heißen, dass sie das Gesuchte noch nicht gefunden hat. Na ja, um ehrlich zu sein, wirkt sie auf mich nicht wie jemand, der es auf vorpubertäres Glück abgesehen hat. Es ist nur so, dass mich allein das Wissen um Tommy Wongs Kopfgeld in Höhe von einer halben Million dazu bringt, mir jeden Eisverkäufer genauer anzuschauen.
Die hatte ich sowieso immer schon in Verdacht.
Ich gehe an einem Kind vorbei, das sich mit seiner Mutter streitet. Ein Junge, vielleicht acht oder neun Jahre alt, die Arme vor der Brust gekreuzt, aus dem Mund nur Widerworte, bockig und widerspenstig, ohne jeden Respekt. Er schmollt und schreit, jammert und jault, hat einen Wutausbruch, mit dem er Russell Crowe
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