Pechvogel: Roman (German Edition)
Großvaters, an die ich mich am besten erinnern kann, nannte er selbst gern den »Heiligen Gral des Wilderns«. Die reinste Form von Glück, die man finden kann. Unbefleckt von der Verderbtheit der Seele. So weiß und weich wie die Wolken des Himmels und mächtiger als das Große Glück höchster Güte.
Rein.
Wenn er davon sprach, lag so viel Freude in seinem Blick, als könnte er sich allein durch das Erzählen darüber ganz genau vorstellen, wie sich ein solches Glück anfühlt, wenn es durch seinen Körper strömt. Doch als ich ihn fragte, ob er schon einmal Reines Glück gewildert habe, erlosch das Leuchten in seinen Augen und wich einer Mischung aus Verlangen und Abscheu.
»Nein, mein Junge«, sagte er. »Das ist nur ein Märchen. Reines Glück – so etwas gibt es nicht.«
Erst als ich älter war, fand ich heraus, was es damit wirklich auf sich hatte.
Ich gehe die Powell Street hoch, passiere die Menschenmenge an der Haltestelle, die auf die Straßenbahn Richtung Ghirardelli Square wartet, und denke dabei an Dougs Worte. Ich würde zu gern glauben, dass er gelogen hat, aber ich weiß, dass Tommy Wong tatsächlich eine halbe Million für das Wildern und Abliefern von hundertprozentig Reinem Glück bietet.
Je länger du mit dem Glück lebst, mit dem du geboren wurdest, desto mehr absorbiert das Glück deine Erfahrungen und jene Schatten und Irritationen, die mit dem Dasein als Mensch einhergehen. Vermischt sich mit all den Neurosen und Phobien, dem emotionalen Ballast, den wir in unserem Innern ansammeln, der Eifersucht, der Homophobie und der Angst, verlassen zu werden. Mit all den Fehlern und schlechten Entscheidungen, die ein Leben ausmachen.
Zum Beispiel, wenn man seine Eltern anlügt. Oder seine Frau betrügt. Oder Steroide nimmt.
Selbst die reinste Form von Glück kann so verwässert werden und sich mit den Gefühlen und Erfahrungen desjenigen mischen, in dessen DNS es steckt. Es ist wie bei einer Art emotionalem Fingerabdruck. Anders gesagt: Wenn man Glück wildert, weiß man manchmal nicht, was man sich darüber hinaus einhandelt.
Eine perfekte Ehe gepaart mit einer Co-Abhängigkeit. Ein kostenloser All-inclusive-Urlaub gemixt mit Verfolgungswahn. Ein Traumjob verbunden mit einer Drogensucht.
Menschen sind wie Schwämme, die alles in sich aufsaugen: Lob und Kritik, Freude und Schmerz, Liebe und Hass. Wir bestehen aus all diesen Erfahrungen. Sie bestimmen, was wir denken, und beeinflussen uns nicht nur auf der emotionalen Ebene, sondern auch auf der zellulären.
Es spielt keine Rolle, ob du Vegetarier oder Fleischfresser bist. An Buddha oder an Gott glaubst. Atheist oder Nihilist bist. Letztendlich bekommt das Glück mit der Dauer der Belastung Flecken. Es ist wie Getriebeöl und sammelt all den Schmutz und Abrieb des Lebens auf. Das Problem dabei ist nur, dass man sein Glück nicht alle zehntausend Kilometer wechseln kann. Es wird einfach immer dreckiger.
Die einzige Methode, sein Glück rein zu halten, ist, ein Leben voller Ehrlichkeit, Integrität und Selbstlosigkeit zu führen. Ohne Vorurteile, Furcht und Verlangen. Selbst die kleinste Verführung kann das Glück verunreinigen – insbesondere in den Vereinigten Staaten, wo das Verurteilen der Nachbarn ein gottgegebenes Recht ist, die Medien ununterbrochen Furcht verbreiten und dich Verführungen jedweder Art rund um die Uhr von acht Meter hohen Werbetafeln und in jeder Werbepause anlachen.
Aber wie es bei jeder Regel üblich ist, gibt es auch hier eine Ausnahme. Ich bin mir sicher, dass das Glück eines Gandhi, einer Johanna von Orleans oder eines Dalai Lama reiner ist als das eines durchschnittlichen Glückspilzes. Aber da sie tot sind, als Märtyrer starben oder im Exil leben, schätze ich mal, dass sie nicht diejenigen sind, für die Tommy Wong eine Belohnung zahlen will.
Ich gehe zum Union Square und betrachte all die Touristen, die ihren Urlaub genießen, ohne zu wissen, dass man ein Kopfgeld auf ihr potenzielles Glück ausgesetzt hat. Insbesondere fallen mir die Familien auf. Die mit kleinen Kindern, die Eiscreme essen, auf Obdachlose zeigen oder gerade einen Wutanfall haben. Die lachen, weinen, fassungslos staunen. Die auf diese Art auf eine Welt reagieren, die sie noch nicht bezwungen und die ihren Mut noch nicht mit Füßen getreten hat.
Der einzige Weg, Reines Glück zu wildern? Man muss es sich von denen holen, die noch nicht erwachsen sind. Idealerweise haben sie noch nicht mal die Pubertät erreicht, noch nicht ihre
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