Pechvogel: Roman (German Edition)
potenziellen Opfer gefunden haben, schadet es ebenfalls nicht, noch einmal bei Jimmy vorbeizuschauen.
Während ich bei Rulli in der Schlange stehe, schaue ich mich weiterhin nach Opfern um. An einem Tisch sitzt ein Ralph-Lauren-Typ wie aus dem Bilderbuch, telefoniert mit dem Handy und ignoriert seine ihm gegenübersitzende Laura-Ashley-Freundin. Eine Brünette mit zugeknöpftem Hemd telefoniert beim Bestellen. Ein japanischer Tourist nimmt seinen Cappuccino vom Barista entgegen und geht ohne ein Wort des Dankes fort.
Ich beobachte sie, die Verhaltensgestörten und Etikette-Trampel, die Handy-Verbrecher und Schaumschläger, und mein Kopfschmerz nimmt stetig zu und meine Geduld ab, bis auch ich schließlich an den Tresen trete und meine Bestellung aufgebe.
Vielleicht liegt es daran, dass ich dringend einen Schuss brauche oder dass ich von Menschen ohne Umgangsformen umgeben bin oder dass ich einen harten Tag und nicht mal Zeit für einen Mittagsschlaf hatte, aber ich entscheide mich für ein schnelles Wildern im Vorbeigehen.
Ich mache mir nicht so sehr Gedanken um das Beutemachen oder ums Geldverdienen. Es geht mir nur um etwas Kleines Glück, das mich durchströmt und das Blatt dieses desaströsen Tages wendet. Etwas, das mir hilft, die Kopfschmerzen loszuwerden und mich von den Verlockungen von fünfhundert großen Scheinen abzulenken, die Tommy für Reines Glück anbietet. Und nichts lenkt besser ab als etwas frisch gewildertes Glück im Körper. Okay, eine Lesben-Show im Mitchell-Brothers-Stripklub ist auch nicht zu verachten, könnte aber nichts gegen die Kopfschmerzen ausrichten.
Ich bestelle einen doppelten Cappuccino mit einem »Bitte«, was mir ein Lächeln der niedlichen Kassiererin mit den Grübchen einbringt. Dann überfliege ich noch einmal die Kunden. Lieber der Ralph-Lauren-Bilderbuch-Typ oder doch eher die Brünette im zugeknöpften Hemd, die mittlerweile derart laut telefoniert, dass sicherlich auch die Fahrgäste in der Straßenbahn an der Powell Street mithören können? Schließlich entscheide ich mich für Ralph.
Erstens sieht er mit seinem Polohemd und seiner Rolex-Uhr finanziell erfolgreich aus. Zweitens ist er arrogant und kriegt daher wahrscheinlich meist seinen Willen. Und drittens bekommt man einen Mann eher dazu, einem die Hand zu schütteln, bevor er die Chance hat, darüber nachzudenken. Selbst sozial eher unverträgliche Männer strecken einem reflexhaft die Hand entgegen. Insbesondere, wenn man mit Händeschütteln sein Geld verdient. Und Ralph Lauren sieht exakt so aus wie ein professioneller Händedrücker.
Das Händeschütteln lässt sich übrigens mehr als viertausend Jahre zurückverfolgen. Unter Kriegern war es ein Friedensgruß, unter Feinden ein Zeichen dafür, dass man keine Waffe in Händen hielt. Was in meinem Fall natürlich glatt gelogen ist.
Da fragt man sich doch, ob das erste Händeschütteln nicht von einem Glücksdieb ausging.
Sobald meine Bestellung da ist, bedanke ich mich, schnappe mir meinen Cappuccino und nehme ein paar Schlucke, um meine Nerven zu kalibrieren. Dann gehe ich zu dem Tisch, an dem Ralph immer noch am Handy quatscht, während seine Freundin ihm gelangweilt und genervt gegenübersitzt.
Aus der Nähe ist sie hübscher. Nicht auf so eine prätentiöse Art, sondern auf ganz natürliche Weise, mit genau der richtigen Menge Make-up, um Augen und Lippen zu betonen. Und sie hat viel Geduld. Sie ist offensichtlich viel zu gut für jemanden, der Telefongespräche der Unterhaltung mit einer Frau aus Fleisch und Blut vorzieht. Ein Grund mehr, Ralph jegliches Glück abzunehmen, das seinen Körper durchströmt.
Ralph ist ein Idiot.
»Ich wollte nur kurz loswerden, wie sehr es mich freut, Sie zu treffen«, sage ich und strecke ihm die Hand entgegen.
Noch ehe Ralph sich eine adäquate Reaktion überlegen oder mir sagen kann, dass ich ihn mit jemandem verwechsle (was er vermutlich ohnedies nicht täte, weil er schließlich ein arroganter Wichser ist), schnappe ich mir seine Hand, schüttle sie und verlasse kurz darauf mit meinem Cappuccino das Café durch die Vordertür.
Ein einfaches Wildern im Vorbeigehen.
Ich trete in den Sonnenschein und spüre, wie die Wärme mich wie ein Kokon umfasst. Auf dem Union Square höre ich Gelächter und Streit; höre Gespräche, die einen halben Block entfernt geführt werden, Busse, Straßenbahnen und all die Geräusche der Stadt, die von unsichtbaren Lautsprechern wie bei einem THX-Surround-System ausgestrahlt zu
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