Pechvogel: Roman (German Edition)
halbseidener Grund reicht nicht aus, um Menschen in mehrere Millionen schweren Häusern dazu zu bringen, sich zu entspannen, wenn ein Fremder an ihre Tür klopft. Wildern ist eine Kunstform und dem Auftritt auf der Bühne gar nicht so unähnlich. Die Kunst ist, das Publikum davon zu überzeugen, dass man der ist, der man ihrer Meinung nach sein sollte.
»Schön, Sie kennenzulernen«, erwidert sie. Sie vertraut mir noch nicht genug, um mir ihren Namen zu nennen, aber dieses Maß an Akzeptanz brauche ich gar nicht. Ich brauche nur ihre Hand. Und genau die gibt sie mir.
Ein Kinderspiel.
Die meisten Menschen merken gar nicht, wenn ihnen ihr Glück sozusagen durch die Finger rinnt. Es verschwindet ohne großes Aufsehen, so wie Schweiß aus den Poren oder Luft aus der Lunge. Donna Baker bemerkt vielleicht eine leichte Temperaturschwankung oder eine kurze Beschleunigung des Herzschlags, aber so etwas macht der Körper mehrmals täglich durch.
Ich hingegen spüre, wie Adrenalin durch meine Adern, Organe und Sehnen jagt. Wie meine Lunge sich erweitert und der Puls sich beschleunigt. Ich kann spüren, wie sich jede meiner Poren öffnet, mein Gesicht sich rötet und Blut durch meine Venen pumpt. Und all das binnen weniger Sekunden.
Dummerweise ist es über drei Jahre her, dass ich das letzte Mal weiches Glück höchster Güte gestohlen habe, und daher bin ich ziemlich aus der Übung. Das Gefühl überwältigt mich, und ich taumele ein kleines Stück zurück, während ich noch immer Donna Bakers Hand festhalte.
»He! Lassen Sie mich los!« Sie entreißt mir ihre Hand, und noch ehe ich zu einer Entschuldigung oder sonst etwas Beruhigendem ansetzen kann, knallt sie mir die Tür vor der Nase zu und schiebt von innen den Riegel vor. Ich beachte es kaum und mache mir auch sonst wenig Gedanken über mögliche Folgen. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, den Schauer zu genießen, der durch das Erbeuten von weichem Glück höchster Güte entsteht.
Die ersten Momente danach sind sehr intensiv: Farben leuchten und strahlen, bekommen Struktur. Es ist, als würde man einen 3-D-Film im IMAX-Kino oder einen Van Gogh unter LSD anschauen. Einen halben Block entfernt hebt eine Krähe ab und schlägt mit den Flügeln, dann erwacht der Motor eines Autos zum Leben. Ich rieche das Öl auf der Straße, den Kaffee in meinem eigenen Atem und das Geißblatt im Nachbargarten. Der Schweiß aus meinen Poren kühlt mir die von der Sonne erhitzte Haut. In Momenten wie diesen spürst du all das gleichzeitig. Erlebst jeden Augenblick, jeden Bruchteil der Zeit. Als würde deine eigene Existenz verlangsamt, und du selbst bewegst dich plötzlich zweimal so schnell.
Sie hält nicht für immer an, diese Schärfung der Sinne. Diese Verstärkung der Wahrnehmung. Umspült zu werden von Farben, Geräuschen und Aromen. Aber momentan bin ich ein wandelndes Paradoxon.
Ich schwebe und bin geerdet. Abgelenkt und konzentriert. Nachgiebig und unbesiegbar.
Seit einigen Jahren gibt es unter Glücksdieben einen Begriff für den Gefühlszustand nach dem Stehlen von weichem Glück höchster Güte. Für das Gefühl. Für dieses Ziel. Unser persönliches Nirwana.
Wir nennen diesen Ort Softland, das Weiche Reich.
Ich habe keine Ahnung, wer diesen Begriff geprägt hat, aber es gab ihn bereits vor meinem Großvater, und er hat sich über die Jahre in unterschiedlichsten Redewendungen festgesetzt.
Nach Softland gehen. Einen Trip nach Softland machen. Mit dem Softland-Express fahren.
Trotzdem ist es keine gute Idee, Glück – insbesondere hochwertiges Glück – länger als eine Stunde im Körper zu behalten. Je länger du es in dir trägst, desto größer wird das Verlangen danach, es zu behalten. Was nicht geht, weil es dir nicht gehört. Und wenn du nicht aufpasst, erwächst daraus eine handfeste Besessenheit.
Es gibt etliche Wilderer, die sich auf der Straße nach Softland verlaufen und nie den Weg zurück gefunden haben. Glück ist wie jede andere Droge. Der Trick ist: Du musst das Glück beherrschen, statt dich von ihm beherrschen zu lassen. Zumindest damit hatte ich nie ein Problem. Ich habe nie zugelassen, dass der Rausch mich davonträgt, habe mich ihm nie hingegeben.
Aber jetzt, nach drei Jahren Wartezeit auf einen Fahrschein für den Softland-Express, will ich noch nicht aussteigen.
Und doch weiß ich trotz der Flutwelle dieses Unbesiegbarkeitsgefühls, die mit dem Stehlen von weichem Glück höchster Güte einhergeht, dass ich mein Glück auf die Probe
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