Pechvogel: Roman (German Edition)
runter ist.
Ich steige aus dem Auto und beuge mich noch einmal vor, um mich erneut zu entschuldigen. Vielleicht sollte ich ihm doch die Wahrheit sagen. Ihm alles erklären. Aus meinem Mund kommt stattdessen: »Und fahr nicht zu schnell. Achte auf Kreuzungen. Telefoniere nicht mit dem Handy während der Fahrt. Augen auf und immer schön vorsichtig, okay?«
»Bist du jetzt meine Mutter, oder was?«
»Ich will nur, dass du heil nach Hause kommst.«
»Soll ich auch noch anrufen, wenn ich da bin?«
»Das wäre schön.«
Er schüttelt abschätzig den Kopf, legt einen Arm auf das Lenkrad und starrt geradeaus.
»Und … Bow Wow?«
Er schaut mich mit dem entnervten Blick eines Einundzwanzigjährigen an, der nicht mit meiner Sicht der Dinge behelligt werden will. »Was?«
»Danke. Ich schulde dir was. Mehr, als du dir vorstellen kannst.«
Dann schließe ich die Tür und sehe ihm hinterher, wie er in Richtung Chinatown davonfährt, rechts in die Bush Street abbiegt und schließlich samt seinem zitronengelben Prius um die Ecke verschwindet.
Ich bleibe einfach stehen, während das Große Glück zweier unterschiedlicher Menschen durch meinen Körper pumpt. Ich höre, wie Paare sich streiten und Obdachlose vor sich hinbrabbeln, spüre, wie die Hitze vom Asphalt aufsteigt und Abgase meine Haut durchdringen, rieche billiges Parfum und abgestandenen Urin.
Manchmal ist das Glückswildern nicht ganz das, was es sein könnte. Insbesondere, wenn du Dinge riechst, hörst und spürst, auf die du liebend gern verzichten würdest.
Gerade jetzt wünsche ich mir, dass ich jemanden hätte, mit dem ich darüber sprechen kann. Jemanden, der mir zuhört, der im richtigen Moment nickt und mir Trost spendet. Der mich einfach wissen lässt, dass er mich versteht. Aber selbst wenn du heiratest, verhält es sich so: Solange es kein anderer Wilderer ist, wird dein Partner dich nie ganz verstehen oder kennenlernen oder sich einen Reim darauf machen können, was oder wer du bist. Und so bleibst du unvermeidlich allein zurück. Mit dir, der Isolation und dem Wissen, dass alles, was du tust und erfährst, nur für dich selbst bestimmt ist.
Du bist ein Fels. Du bist eine Insel. Simon & Garfunkel lassen grüßen.
Orson Welles hat einmal gesagt, dass wir allein geboren werden, allein leben und allein sterben. Dass wir uns durch Liebe und Freundschaft nur die Illusion erschaffen, nicht allein zu sein.
In meinem Leben gibt es weder Liebe noch Freundschaft. Ich kann mit niemandem über meine Erfahrungen reden. Es gibt niemanden, der verstehen kann, was ich durchlebe. Und mir kommt ein anderes Zitat in den Sinn, diesmal von Mark Twain:
Mit Kummer kann man allein fertigwerden, aber um sich aus vollem Herzen freuen zu können, muss man die Freude teilen.
Auch ich wünsche mir jemanden, mit dem ich all das teilen kann: Freude und Leid, Schmerz und Genugtuung, alle Höhen und Tiefen des Lebens. Und selbst wenn es wirklich nur eine Illusion sein sollte, wäre sie mir trotzdem lieber als die Realität. Aber ich bin gestrandet auf dieser Insel der Einsamkeit, bin umgeben vom Ozean der Leere, der sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckt – und im Gegensatz zu Tom Hanks in Cast Away habe ich nicht mal einen Volleyball, mit dem ich reden könnte.
Während ich so dastehe, mich wie ein Aussätziger fühle und mich meinem Verdruss hingebe, kommt eine Obdachlose singend auf mich zu. Sie unterbricht ihren musikalischen Vortrag von Rock-a-bye Baby lange genug, um mich zu fragen, ob ich ein bisschen Kleingeld für sie habe, damit sie sich etwas zu essen kaufen kann. Auch wenn ich stark vermute, dass sie das Geld für Schnaps ausgeben wird, gebe ich ihr einen der Hunderter, die ich im Portemonnaie habe, und hoffe, ihr damit irgendwie bei ihrer eigenen Illusion zu helfen.
»Danke«, sagt sie mit einem Lächeln, das zwingend eine Zahnbürste nötig hätte. Dann geht sie davon und murmelt: »Jack and Jill went up the hill to fetch a pail of water. Jack fell down and broke his crown, and Jill came tumbling after.«
Ich schaue ihr nach, lausche dem alten Kinderreim und denke an Jacks und Jills verhängnisvollen Marsch auf den Hügel, um dort einen Eimer Wasser zu holen. Klar, Jack ist runtergefallen und hat sich den Schädel angeschlagen. Aber wenigstens ist auch Jill runtergepurzelt, so dass er nicht alleine leiden musste. Und Humpty Dumpty, der ungeschickte Tölpel, hatte hundert Mann und zehn Pferde an seiner Seite – auch wenn es ihm letztendlich
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