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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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neun Uhr war Berditschewski beim Gefängniskomitee, wo er sich vom Inspektor ein Schreiben für den Aufseher der Gouvernements-Haftanstalt geben ließ.
    Im Gefängnis hielt er sich nicht mit langen Vorreden auf, sondern fragte sofort:
    »Führen Sie ein Besucherverzeichnis?«
    »Jawoll, Eure Hochwohlgeboren! Darin sind wir sehr genau. Jeder Besucher, wo da herkommt, das kann sein der Gouverneur persönlich, wird dort hineingeschrieben«, meldete der Diensthabende.
    Das hätte ich als Allererstes tun müssen, tadelte sich Matwej Benzionowitsch. Anstatt in irgendwelchen Drecklöchern herumzustrampeln. Ein lausiger Schnüffler bin ich. Wahrlich keine Pelagia.
    Er schlug das Register bei den Eintragungen für den neunzehnten November des vergangenen Jahres auf (dem Tag von Razewitschs Entlassung) und fuhr mit dem Finger von unten nach oben über die Kolonne mit den Besuchernamen.
    Am 18. November hatte der Gefangene in der Zelle Nummer elf, der »Adelszelle«, keinen Besuch gehabt, obwohl es an diesem Tag insgesamt sechsundzwanzig Visiten gegeben hatte.
    Am 17. November gab es zweiunddreißig Besucher, aber für Razewitsch wiederum niemanden.
    16. November . . . Da, da war es!
    In akkurater Schönschrift stand dort in der Spalte »Zu wem«: »In die 11 zu dem zahlungsunfähigen Schuldner Razewitsch«. Und daneben, in der Spalte »Unterschrift des Besuchers: Name, Familienname, Rang«, irgendetwas Unleserliches.
    Der Staatsanwalt trug den Folianten zum Fenster und hielt ihn ins Licht, kniff die Augen zusammen und versuchte, den offenbar sehr lässig hingeworfenen Schriftzug zu entziffern.
    Und als die Buchstaben sich einer nach dem anderen zu einem Namen zusammensetzten, ließ Berditschewski das Buch auf das Fensterbrett fallen und blinzelte bestürzt.

XIII
    Das Meer der Toten
    Es kommt das Neueste Testament
    Eintönig und ermüdend zog sich der Weg nach Bet-Kebir.
    Der Jordan, ausgedörrt und bar jeder Pittoreske, war für die Pilgerin eine herbe Enttäuschung. Polina Andrejewna nahm es der Vorsehung geradezu persönlich übel, dass sie aus nicht nachvollziehbarem Grund das wichtigste Ereignis in der Menschheitsgeschichte an diesem kümmerlichen Rinnsal hatte stattfinden lassen, anstatt es, sagen wir, an die majestätischen Ufer ihres heimatlichen Wolgastromes zu verlegen, wo Himmel und Erde nicht wie hier von all dem Staub ständig die Augen zukneifen mussten, sondern sich frei und offen anblicken konnten.
    Und als der Jordan schließlich ins Tote Meer floss, das auch »das Asphaltene« genannt wird, wurde das Bild noch dürftiger.
    Zur Rechten erstreckten sich die kahlen Hügel der Judäischen Wüste, zur Linken erstreckte sich dunstverhangen der Wasserspiegel. Im ersten Moment schien es Pelagia, der ganze See sei mit einem dicken Panzer aus silbernem Eis überzogen, obwohl das natürlich bei dieser Hitze vollkommen undenkbar war. Die Nonne ging zum Ufer hinab und steckte die Hand ins Wasser. Sogar von nahem war die Illusion perfekt, aber ihre Hand stieß nicht auf eine kalte, harte Kruste, sondern tauchte in warmes, vollkommen klares Nass, unter dem eine dichte Schicht weißen Salzes lag. Polina Andrejewna leckte an ihrer Hand und kostete den Geschmack von Tränen.
    Ihre Augen brannten. Der Meeresspiegel flimmerte grell, ebenso die gezackten Felsen, die Wüste und der Weg. Und niemals hatte Pelagia eine solche Stille erlebt. Der Sand rieselte nicht, das Wasser plätscherte nicht, und als Salach die Pferde angehalten hatte, um sie rasten zu lassen, wurde die Stille schier unerträglich. »Totenstille am Toten Meer«, dachte Pelagia, ohne so ein Wortspiel im Sinn gehabt zu haben.
    Je näher sie dem südlichen Rand des Salzsees kamen, desto lebloser und unnatürlicher wurde die Umgebung. Scharfgezackte Felsen ragten bizarr aus dem Boden, es sah aus, als fletsche die Erde selbst grimmig die Zähne, und die Berge traten ganz dicht an die Ufer heran, als wollten sie das Fuhrwerk in die ätzende Salzlauge stoßen.
    Polina Andrejewna wurde immer beklommener zumute; nicht wegen der Unwirtlichkeit der Landschaft, sondern weil sie daran denken musste, was für schreckliche Gräuel hier vor vielen Jahrhunderten geschehen waren.
    Einst war dies ein blühendes Land gewesen, »vollständig bewässert . . . wie der Garten des Herrn, wie das Land Ägypten bis hin nach Zoar. Aber der Herr ließ im Zorn Schwefel und Feuer vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha regnen, und es entstand dieser riesige Trichter, angefüllt mit bitteren

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