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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Quellen des täglichen Genusses in sich entdeckt, zwei neue Talente, von denen sie früher nicht einmal etwas geahnt hatte.
    Das erste war der Tanz. Doch tanzte sie nicht für ihre Familie, auch nicht für die Gäste und schon gar nicht für Fremde, sondern einzig und allein für sich selbst. Sich ganz der Harmonie, der graziösen Bewegung hingeben, spüren, wie ihr Körper, der früher so unbotmäßig war, der knirschte und knarrte wie eine verrostete mechanische Maschine, auf einmal leicht wurde wie eine Daunenfeder und biegsam wie eine Schlange. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie in ihrem fünften Lebensjahrzehnt, da man gewöhnlich von seinem Fleische nur noch Enttäuschungen erwartet, überhaupt erst zu begreifen beginnt, was für ein vollkommener Organismus der Körper ist!
    Im Haus herrschte Stille. Ljowuschka und Salomeja aalten sich im Schlafzimmer, sie würden erst gegen Abend aufstehen, wenn die Hitze nachließ. Antinuscha planschte natürlich wieder im Schwimmbecken herum, den bekam man nicht einmal mit einer ganzen Truppe von Treidlern aus dem Wasser gezogen.
    Jeden Tag nach der Mittagsstunde, wenn alles ruhig war und sie nur sich selbst überlassen, tanzte Irodiada ganz allein vor dem Spiegel. Der elektrische Ventilator trieb Wellen aromatisierter Luft durch das Atrium, und die Tänzerin bewegte sich mit vollkommener Grazie, Schweißtropfen liefen über ihr Gesicht und trockneten sogleich wieder.
    Eine halbe Stunde vollkommenen Glücks, anschließend eine wunderbare kalte Dusche nehmen, ein Glas geharzten Weines mit ein wenig Schnee trinken, sich einen Seidenchiton Überwerfen und dann ihrem zweiten Lieblingsvergnügen entgegenstreben, dem Garten.
    Heute jedoch wollte es ihr partout nicht gelingen, sich ganz und gar der Bewegung hinzugeben, und in ihrem Kopf, in dem nichts anderes als Musik sein sollte, saß ein trüber, beunruhigender Gedanke und wedelte mit seinem Mauseschwanz.
    ». . . wird zugrunde gehen und erlöschen«, hörte Irodiada plötzlich eine undeutliche Stimme, und sie blieb stehen.
    Ach, das war es.
    Das gestrige Gespräch.
    Sbyschek und Rafek, die beiden Wirrköpfe aus Warschau, hatten diesen seltsamen Menschen in die Stadt mitgebracht, einen Landstreicher in einem abgewetzten Kittel, der mit einem blauen Strick umgürtet war. Sie hatten ein Wagenrennen am Seeufer entlang veranstaltet und ihn dort auf der Chaussee aufgelesen, weil er sie durch sein Aussehen zum Lachen brachte. Als sie herausfanden, dass der Wanderer aus Russland kam, brachten sie ihn zu ihren russischen Freunden, um ihn vorzuzeigen.
    Sie war allein zu Hause gewesen. Ljowuschka war bei einer Sitzung im Areopag, die Kinder waren am Strand.
    Als der Zerlumpte sich als Manuila vorstellte, als Anführer der »Findelkinder«, musste die Hausherrin innerlich lachen. Der Arme hatte natürlich keine Ahnung davon, dass sie durch einen ulkigen Zufall über den Tod des echten Manuila Bescheid wusste, der, wie man getrost sagen kann, quasi direkt vor ihren Augen umgebracht worden war.
    Irodiada hatte es nicht eilig, den Schwindel auffliegen zu lassen, sie wollte einen effektvollen Moment abwarten. Als die beiden Warschauer Taugenichtse sich aufmachten, um dem Vagabunden die Stadt zu zeigen, ging sie mit.
    Der Pseudo-Manuila drehte unentwegt den Kopf nach allen Seiten, stieß Rufe des Erstaunens und der Bewunderung aus und hatte ständig irgendwelche Fragen. Weil Sbyschek und Rafek die ganze Zeit bloß herumgackerten und Quatsch machten, fiel die Rolle des Fremdenführers Irodiada zu.
    »Und Frauen werden von Ihnen nicht akzeptiert?«, staunte der selbst ernannte Prophet.
    »Wir akzeptieren und respektieren sie«, entgegnete Irodiada. »Am Westplatz haben wir sogar der Gemahlin Lots ein Denkmal errichtet. Wir haben nämlich am See einen großen Salzblock gefunden und haben dann von einem Bildhauer eine Statue daraus meißeln lassen. Ein paar hatten zwar etwas dagegen, eine nackte Frauenfigur in der Öffentlichkeit aufzustellen, aber die Mehrheit ist sehr tolerant. Wir haben nichts gegen Frauen, es geht uns nur besser ohne sie, und ihnen geht es besser ohne uns.«
    »Und gibt es irgendwo auch eine Frauenstadt?«, fragte der falsche Manuila.
    »Bis jetzt nicht«, erklärte Irodiada. »Aber es soll bald eine geben. Unser Wohltäter, George Cyrus, hatte ursprünglich den Plan, ein Stück Land auf der Insel Lesbos zu kaufen, aber die griechische Regierung hat es nicht genehmigt. Dann kam er auf die Idee, das alte Gomorrha wieder

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