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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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geworden, und er sei überdies eben ein sehr gewissenhafter Mensch, der immer alles selber machen müsse. Die Expedition machte sich auf den Weg, den Mörder, der durch ein geheimnisvolles Band mit Dolinin in Verbindung blieb, immer im Schlepptau. Möglicherweise war Razewitsch sogar auf dem Lastkahn selber versteckt, vielleicht im Laderaum oder sonst wo. Anschließend marschierte er auf eigene Faust durch den Wald, wobei er sich die ganze Zeit in ihrer Nähe aufhielt. Als Pelagia einmal zufällig auf den Verfolger stieß, fing Dolinin auf einmal an, von irgendwelchen unheilvollen Waldwesen zu erzählen, und brachte damit die Nonne, die sonst sehr aufgeweckt ist, so geschickt durcheinander, dass sie keinen Verdacht schöpfte.
    Und jetzt kommt das Wesentliche.
    Als Dolinin die Identität des Ermordeten festgestellt hatte, reiste er sofort ab. Razewitsch jedoch blieb dort.
    Wozu?
    Völlig klar: um Pelagia zu töten. Aber warum hatte er das nicht schon viel früher getan? Zum Beispiel bei dieser unheimlichen Begegnung im Wald?
    Matwej Benzionowitsch dachte eine Weile nach und fand auch auf diese Frage eine Antwort.
    Weil er vorher nicht den Befehl dazu erhalten hatte. Das heißt, der Befehl, die Nonne zu töten, wurde erst nach der Abreise des Untersuchungsführers erteilt.
    Von wem?
    Natürlich von Dolinin, von wem sonst?
    Berditschewski hatte längst vergessen, dass er doch eigentlich keine voreiligen Schlüsse ziehen wollte, und entwarf hemmungslos eine Hypothese nach der anderen – die übrigens, nebenbei bemerkt, alle Hand und Fuß besaßen.
    Möglicherweise wollte der Untersuchungsführer nicht in der Nähe sein, wenn Pelagia getötet wurde, sei es, um sich mit einem Alibi zu versehen, sei es aus Sentimentalität – damit er nicht dabei zuschauen musste.
    Wahrscheinlicher war jedoch etwas anderes: Vielleicht hatte Pelagia in Stroganowka irgendetwas gesagt oder getan, woraus Dolinin schloss, dass sie kurz vor der Aufklärung des Mordes auf dem Dampfer stand. Das konnte sogar der eigentliche Grund gewesen sein, weshalb sie der Untersuchungsführer unbedingt auf diese Expedition hatte mitnehmen wollen, um nämlich während der Fahrt herauszufinden, wie gefährlich sie eigentlich war. Und unterwegs wurde ihm dann klar, dass sie ausgeschaltet werden musste.
    Ganz nebenbei fand sich im Verlaufe dieser Deduktionen auch die Antwort auf die erste der bisher noch ungeklärten Fragen. Dolinin brauchte den von der Gesellschaft Verstoßenen mit den Eigenschaften eines Wolfshundes: Erstens, weil er ein von der Gesellschaft Verstoßener war, und zweitens, weil er ein Wolfshund war, also ein Spezialist für geheime Aufträge. Mit Homosexualität hatte das alles wahrscheinlich nicht das Geringste zu tun. Sehr gut möglich, dass der Petersburger davon gar nichts wusste. Aber spielte das überhaupt eine Rolle?
    Jetzt zur nächsten der ungeklärten Fragen: War Dolinins Besuch in der Zelle Nummer elf des Gouvernements-Gefängnisses, der »Adelszelle« nun Zufall oder nicht? Oder dienten ihm vielleicht seine Inspektionsreisen durch das Reich, um ganz gezielt Leute ausfindig zu machen, die ihm für irgendwelche Zwecke nützlich sein konnten? Das war natürlich nur eine Mutmaßung, eine reine Mutmaßung, aber doch eine ziemlich wahrscheinliche.
    Es war, als sei in Matwej Benzionowitschs Kopf eine Art Damm gebrochen: Die Gedanken, Vermutungen und Erleuchtungen ergossen sich mit solcher Gewalt, dass der Staatsanwalt unter dieser Flutwelle förmlich nach Luft schnappte.
    Aber da tauchte schon ein neues Hindernis auf, das noch massiver war als das vorhergehende, und davor stauten sich die Wasser und brodelten und tosten.
    Wer war der Wirkliche Staatsrat Dolinin tatsächlich?
    Berditschewski rief sich alles, was er von Pelagia oder aus anderen Quellen über diese Person wusste, in Erinnerung.
    Dolinin hatte viele Jahre als Untersuchungsführer bei der Strafkammer gedient. Dann hatte es ein Familiendrama gegeben, anscheinend hatte ihn seine Frau verlassen. Darüber erzählte Pelagia mit großer Anteilnahme, sie kannte wohl auch irgendwelche Einzelheiten, behielt sie jedoch für sich. Sie berichtete Matwej Benzionowitsch nur, der verlassene Ehemann sei vollkommen verzweifelt gewesen, sei aber dann einem weisen und guten Menschen begegnet, der ihn zurück zu Gott gebracht und vor selbstzerstörerischen Gedanken gerettet habe. In dieser Zeit ereignete sich auch Dolinins Karrieredurchbruch, er wurde weit nach oben katapultiert und konnte über

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