Pelagia und der rote Hahn
sich weitaus leichter feststellen lassen, als der Staatsanwalt ursprünglich befürchtete. Zuerst wurde das Hotel ausfindig gemacht, in dem er logierte. Das war nicht besonders schwierig, schließlich war Sawolshsk keine sehr große Stadt. Man durchsuchte sein Zimmer und fand einen Pass, der auf den Namen des ehrwürdigen Bürgers Mawriki Irinarchowitsch Pfirsichow ausgestellt war.
Berditschewski jedoch traute diesem Pass nicht, eingedenk der Tatsache, dass der Verbrecher sich auf dem Dampfer als Adliger namens Ostrolyshenski ausgegeben hatte. Deshalb ließ er die Leiche fotografieren. Natürlich nicht auf so hoch wissenschaftliche Art und Weise wie Sergej Sergejewitsch Dolinin – weder kämmte er den Toten, noch träufelte er ihm Nitroglycerin in die Augen (außerdem hatte die Leiche ja auch gar keine Augen, nicht ein einziges).
Die fotografischen Aufnahmen wurden zusammen mit einer genauen Personenbeschreibung an alle Geheimdienst – und Kriminalpolizei-Abteilungen des ganzen Reiches verschickt. Kurz darauf kam die postwendende Antwort von der Kiewer Geheimpolizei. Die brachte allerdings eine Riesenüberraschung.
». . . Er heißt nämlich weder Pfirsichow noch Ostrolyshenski«, leitete Matwej Benzionowitsch mit bedeutungsvoller Miene zum Hauptteil seines Berichtes über (begonnen hatte er mit einer bewegenden und wortgewaltigen Lobrede auf Pelagias beispiellosen Heldenmut). »Es handelt sich vielmehr um einen gewissen Bronislaw Razewitsch, Angehöriger des Erbadels aus dem Gouvernement Kowno, und . . .« Hier legte der Staatsanwalt eine kleine Kunstpause ein, um sodann seine Hauptsensation zu verkünden. ». . . man höre und staune – einen ehemaligen Stabsrittmeister der Gendarmerie! Seine Dienststelle war der Gendarmerieposten des Gouvernements Wolhynien in der Stadt Shitomir. Razewitsch galt, wie in dem Bericht aus Kiew vermerkt ist, als tapferer und tüchtiger Offizier. Er gehörte zuletzt einer Spezialeinheit zur Bekämpfung von besonders gefährlichen Verbrechern an und verlor bei einer Schießerei mit einer Bande von Dynamithändlern ein Auge. Man hat ihn wiederholt ausgezeichnet. Im vergangenen Jahr jedoch wurde er unehrenhaft aus dem Dienst entlassen, wegen Verstoßes gegen den Ehrenkodex der Truppe. Es ist, wie Sie vielleicht wissen, den Offizieren der Gendarmerie verboten, sich Geld zu leihen. Unser Stabsrittmeister jedoch hat sich hoch verschuldet, zudem bei jüdischen Wucherern!« Berditschewski, der ja selber jüdischer Abstammung war, blinzelte ironisch und fügte dann spöttisch hinzu: »Was für seine Vorgesetzten natürlich doppelt unerträglich war! Razewitsch landete also im Schuldenturm. Das heißt, er wurde selbstverständlich zunächst aus dem Dienst entlassen und erst danach ins Gefängnis geworfen, denn ein Offizier des Gendarmeriekorps kann nicht im Gefängnis sitzen. Aber bald darauf gelang es ihm auf irgendeine Art und Weise, seine Schulden zu begleichen und sich aus der Haft freizukaufen. Ein Zurück in den Dienst gab es für ihn allerdings nicht. Kaum wieder in Freiheit, verließ Razewitsch Shitomir mit unbekanntem Ziel. Seine weiteren Aufenthaltsorte und Tätigkeiten sind dem Kiewer Geheimdienst nicht bekannt.«
Der Schock, den er mit seinem Bericht bei seinen Zuhörern ausgelöst hatte, war dem Staatsanwalt der liebste Lohn. Als er eine Stunde zuvor die Depesche gelesen hatte, war er selbst vor Aufregung wie ein aufgescheuchtes Huhn in seinem Kabinett hin und her gelaufen und hatte ununterbrochen gestöhnt: »Ojojoj, das gibt’s doch gar nicht!«
»Aber . . . aber wie ist das denn alles zu erklären?«, rief der Bischof erschüttert. »Wie kann nur ein Gendarm, noch dazu ein Offizier, wenn auch ein ehemaliger . . . Ich bin vollkommen fassungslos!«
Matwej Benzionowitsch, der ja schon ein wenig Zeit gehabt hatte, sich von dem Schrecken zu erholen, hatte bereits eine Antwort parat.
»Ich denke, die Sache verhielt sich folgendermaßen: Razewitsch, der so viele Jahre lang heldenmütig für Recht und Ordnung gekämpft hatte und dann so schnöde verstoßen worden war – und zwar nicht wegen eines Kapitalverbrechens, sondern wegen einer Bagatelle –, war zutiefst verletzt und erbittert. Er hatte seine Schulden nicht rechtzeitig zurückgezahlt, na und?! So was kommt doch alle Tage vor. Und deshalb hat man ihn, einen hochverdienten Offizier, aus dem Korps gejagt? Und wie, verehrte Obrigkeit, sollte er jetzt seinen Lebensunterhalt verdienen?« Berditschewski lächelte schlau und
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