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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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aufgeworfene, weiche Lippen seinem Gesicht gewöhnlich einen gewissen Ausdruck von Schwäche verliehen, war jetzt beständig entschlossen zusammengepresst, die braunen Augen hatten den Glanz flüssigen Stahls (bisweilen gar mit einem Stich ins Orange), und seine Ausdrucksweise war trocken und knapp. Mit einem Wort, dieser nette, intelligente Mensch hatte sich in einen vollwertigen Staatsanwalt verwandelt.
    Als Erste bekamen natürlich seine Untergebenen diese Metamorphose zu spüren.
    Am Morgen nach Schwester Pelagias Evakuierung erschien der Chef bereits in aller Herrgottsfrühe zum Dienst, baute sich mit der Uhr in der Hand im Türrahmen auf und kanzelte jeden nach Strich und Faden ab, der sich später als zur vorgeschriebenen Zeit – welche bisher von allen, einschließlich dem Bezirksstaatsanwalt selber, für eine Art abstrakte Größe angesehen wurde – zum Dienstantritt meldete. Anschließend berief Matwej Benzionowitsch die Mitarbeiter der Ermittlungsabteilung einen nach dem anderen zu sich und wies jedem dezidiert seine Aufgabe zu. Früher war es üblich gewesen, dass der Staatsanwalt die gesamte Mannschaft versammelte und wortreich über Strategie und Ermittlungsperspektiven im Allgemeinen schwadronierte. Jetzt wurde nichts mehr erklärt und nichts mehr begründet: Tun Sie freundlicherweise, was man Ihnen befiehlt, und halten Sie den Mund. Die Beamten verließen das Kabinett ihres Vorgesetzten mit konzentriertem Gesicht, wenn auch finsterer Miene, winkten nur ab, wenn ihre Kollegen sich mit irgendwelchen Fragen an sie wandten – keine Zeit, keine Zeit –, und enteilten, um die Anordnungen auszuführen. Die Staatsanwaltschaft, die bis dato, vor allem auf Grund der geringen Kriminalitätsrate im Sawolshsker Gouvernement, als ein Hort des Phlegmas gegolten hatte, erinnerte plötzlich eher an einen Divisionsstab mitten in einem laufenden Manöver: Die Beamten, früher träge wie Fliegen im Winter, waren jetzt flink wie die Küchenschaben, die Türen fielen nicht mehr mit einem dezenten »Klick« ins Schloss, sondern mit ohrenbetäubendem »Kawautz«, und vor dem Telegrafen stand praktisch ununterbrochen eine ungeduldige Schlange.
    Berditschewskis nächstes Opfer war der Gouverneur selber, der gutmütige Anton Antonowitsch von Gaggenau. Nach seiner plötzlichen Verwandlung hatte der Staatsanwalt seine Besuche im Adelsklub, wo er früher gerne das ein oder andere Stündchen verbrachte und gegen sich selbst Schach spielte, vollständig eingestellt. Die traditionelle Dienstagspreference beim Herrn Baron wagte er allerdings nicht zu vernachlässigen. Ungewohnt still saß er dann am Tisch und schaute immer wieder auf die Uhr. Einmal, als er mit dem Gouverneur zusammen gegen den Leiter des Schatzamtes spielte, unterlief Seiner Exzellenz ein fahrlässiger Fehler – er stach die Dame des Staatsanwalts mit seinem König. Früher hätte Matwej Benzionowitsch dazu nur nachsichtig gelächelt und gesagt: »Macht nichts, das war meine Schuld«, aber dieser nicht wieder zu erkennende Matwej Benzionowitsch pfefferte die Karten auf den Tisch und schalt Anton Antonowitsch eine »Schlafmütze«. Der Gouverneur klimperte mit seinen flachsblonden Wimpern und schaute sich hilfesuchend nach seiner Gattin Ludmilla Platonowna um.
    Dieser waren bereits die verschiedensten beunruhigenden Gerüchte aus der Staatsanwaltschaft zu Ohren gekommen, und jetzt fasste sie den Entschluss, gleich am nächsten Morgen der Gattin des Staatsanwalts, Maria Gawrilowna, einen Besuch abzustatten.
    So geschah es. Als man beim Kaffee beisammensaß, erkundigte sie sich vorsichtig, ob mit Matwej Benzionowitschs Gesundheit auch alles zum Besten stehe, und ob sich nicht das Überschreiten der Vierzig vielleicht negativ auf seinen Charakter ausgewirkt habe; das sei ja nun ein Alter, das vielen Männern gewisse Probleme bereite.
    Doch, doch, klagte die Frau Staatsanwalt, er habe sich allerdings verändert. Irgendeine Laus müsse ihrem Motja über die Leber gelaufen sein, ständig sei er gereizt, essen würde er auch nicht richtig, und nachts knirsche er mit den Zähnen. Und damit leitete Maria Gawrilowna unverzüglich zu brennenderen Problemen über: Der kleine Kirill habe einen hartnäckigen Durchfall, und Sonja sehe aus wie voll gekleckst, behüte Gott, wenn das nur nicht die Masern sind!
    »Als mein Anton auf die Vierzig zuging, hat ihn plötzlich auch ganz furchtbar der Hafer gestochen«, lenkte Ludmilla Platonowna das Gespräch auf das Thema zurück. »Er

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