Pelagia und der rote Hahn
ein ganz gewöhnlicher Besuch beim Zahnarzt.
Und als er sich nun von den Seinen verabschiedete, empfand er keineswegs Angst, sondern nichts als fieberhafte Ungeduld und das unerklärliche Gefühl, dass ihm die Zeit davonlaufe.
Mechanisch schlug er das Kreuz über allen dreizehn Kinderseelen (die fünf kleinsten schliefen schon), und küsste eilig seine Frau.
Und da tat die gestrenge Maria Gawrilowna etwas Unerwartetes. Sie legte ihre fülligen Arme um Berditschewskis Hals und sagte ganz leise:
»Matjuschenka, bitte, gib auf dich Acht. Du musst nämlich wissen: Ein Leben ohne dich ist kein Leben.«
Matwej Benzionowitsch war wie vom Donner gerührt. Erstens hatte er nicht geahnt, dass seine Frau irgendetwas mitbekommen hatte. Und zweitens war Maria Gawrilowna für gewöhnlich äußerst geizig mit jeder Art von Herzensergüssen, genauer gesagt, sie lehnte sie eigentlich vollständig ab.
Der Staatsanwalt errötete, wendete sich linkisch ab und eilte, halb gehend, halb laufend, nach draußen, wo eine Staatskarosse auf ihn wartete.
A jiddische Kopp oder ein »blonder Engel«
Je mehr sich Matwej Benzionowitsch der Stadt Shitomir näherte, desto stärker wurde eine befremdliche Empfindung in seinem Inneren. Ihm war, als rolle er auf einem festen Gleis dahin, und er könne weder ausscheren noch umkehren, ehe er die Endstation erreicht hätte – deren Namen er nicht kannte und wo er auch nicht hinwollte.
Und dabei gab es unterwegs immer wieder Hinweise, die nur für ihn zu gelten schienen; als ob die Vorsehung den geistigen Fähigkeiten des Staatsrats nicht allzu sehr vertraute und es für nötig hielte, ihm unmissverständliche Signale zu geben: Jawohl, du bist auf dem richtigen Weg, alles in Ordnung, zweifle nicht!
Es fing damit an, dass der Zug, den Berditschewski in Nischni Nowgorod bestieg, ihn in die Stadt Berditschew brachte, wo er in die Schmalspurbahn nach Shitomir umsteigen musste.
Als Matwej Benzionowitsch dann in der Hauptstadt des Gouvernements Wolhynien ankam, stellte sich heraus, dass die beiden Ämter, die er aufsuchen wollte – das Gefängniskomitee und das Polizeipräsidium – sich ausgerechnet in der Großen Berditschewskistraße befanden.
Zu diesem Zeitpunkt war der Staatsanwalt bereits völlig im Banne einer Art mystischen Gefühls befangen, dass nicht er selber sich irgendwohin begebe, sondern dass er von jemandem geleitet werde, und deshalb war er die ganze Zeit auf der Hut, damit ihm um Gottes willen nicht irgendein wichtiges Zeichen entging.
Und was meinen Sie, was passierte?
Auf dem Bahnhof wurde er zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen zwei jüdischen Kaufleuten, die darüber klagten, wie schwer das Leben in dieser Stadt geworden sei und was für ein Unglück, dass der Polizeichef so ein Judenfresser sei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Berditschewski vorgehabt, zunächst das örtliche Gefängniskomitee aufzusuchen – er hatte sich zu diesem Zweck eigens mit einem Empfehlungsschreiben aus der Kanzlei des Sawolshsker Gouverneurs versorgt –, aber schon wurde sein Plan in eine andere Richtung gelenkt: Mit diesem Judenfresser von Polizisten musste er beginnen.
Er quartierte sich im »Bristol« ein, dem besten Hotel am Platz, auf dessen Empfangstresen ein schwarzlackierter Fernsprechapparat prangte; daneben das beeindruckende städtische Teilnehmerverzeichnis, das allerdings auf einer einzigen Seite Platz fand.
Ein Träger mit schiefer Nase und dicken Lippen schleppte den Koffer des Neuankömmlings zum Tresen. Dort regierte der Empfangschef – gewichtig und mit dicker Goldkette über dem imposanten Bauch.
»Is grad mit dem Zuch anjekomm, Naum Solomonitsch«, verkündete der Träger näselnd. »Ich schnell zu ihm hin, so und so, sage ich, ins ›Bristol‹, bitte sehr.«
»Gut gemacht, Kolja«, lobte der Empfangschef.
Mit einem schnellen Blick hatte er Berditschewskis teuren Mantel taxiert, verweilte einen Moment auf seinem Gesicht und lächelte dann süß.
Berditschewski seinerseits sah den Fernsprechapparat an. In diesem Attribut des Fortschritts sah der Staatsrat ein weiteres Zeichen des Himmels. Da stand sie ja auch, die Nummer des Polizeimeisters: »No 3-05 Hofr. Gwosdikow Semj. Lik.« Was sich hinter der Abkürzung »Lik« verbarg, war ihm allerdings schleierhaft.
Nichtsdestotrotz drehte er unverzüglich die Kurbel und ließ sich von dem Fräulein verbinden. Er handelte nicht logisch, sondern folgte einfach einer spontanen Eingebung.
Er meldete sich mit Namen,
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