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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Erden ist eine brutale Angelegenheit, das geht nicht ohne Blutvergießen ab. Ich selbst wäre höchstwahrscheinlich im Lager der so genannten Zionisten gelandet, hätte ich nicht das Glück gehabt, Ihnen zu begegnen. Wenigstens haben diese Leute Selbstbewusstsein und einen eigenen Willen, im Gegensatz zu den Kaftanträgern. Aber auch die sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Bei ihnen stellt sich das Gefühl ein, die Verdammung, die zweitausend Jahre lang auf den Juden lastete, könne allmählich zu Ende gehen, und der Wiederaufbau des Tempels von Jerusalem stehe unmittelbar bevor. Umso schärfer ist der Hickhack zwischen all den verschiedenen Gruppen und Grüppchen – den litauischen und den kleinrussischen Juden, den Traditionalisten und den Reformatoren. Nicht von ungefähr fühlt sich jeder semitophobe Esel bemüßigt, irgendwelche Gerüchte über Ritualmorde, geheime Synedrien und das Blut christlicher Säuglinge in die Welt zu setzen. Natürlich gibt es keine Ritualmorde, und es kann sie auch nicht geben – was sollen die Juden mit den Gojim und ihrem unkoscheren Blut? Mit den eigenen Leuten ist es aber etwas anderes. Da fehlt nicht viel, und es fließt Blut. Vor allem wegen der Entwicklung in Palästina. Im Heiligen Land gibt es einiges zu verteilen, nie zuvor sind so viele Spenden dorthin geflossen wie gerade jetzt. Verzeihen Sie mir meine umständlichen Ausführungen, Eminenz, es ist nur der Vollständigkeit halber. Und außerdem habe ich einen Entschluss gefasst.«
    »Du willst nach Shitomir?«, fragte der Bischof scharfsinnig.
    »Ja. Ich will mir die Gläubiger unseres Stabsrittmeisters doch mal ansehen.«
    Mitrofani überlegte einen Moment und nickte dann zustimmend.
    »Ja, das ist wohl keine schlechte Idee. Aber du sagtest vorhin, es gebe zwei Theorien?«
    Der Staatsrat wurde lebhaft. Seine zweite Theorie sagte ihm offensichtlich erheblich mehr zu als die erste.
    »Es ist bekannt, dass das jüdische Siedlungsgebiet, zu dem das Gouvernement Wolhynien gehört, eine Arena für die Aktivitäten verschiedener antisemitischer Organisationen ist, einschließlich der radikalsten unter ihnen, der so genannten ›Leibgarde Christi«. Diesen Judenhassern sind die üblichen Pogrome nicht genug, sie schrecken auch vor politischen Morden nicht zurück. Den Propheten Manuila müssen diese ›Leibgardisten« noch mehr hassen als die eigentlichen Juden, denn er ist ihrer Meinung nach ein Verräter am rechten Glauben und an der Nation, weil er Russen aus dem Schoß der orthodoxen Kirche entführt und zum Judentum bekehrt. Ich habe überlegt, ob nicht vielleicht diese ›Leibgarde‹ Razewitsch freigekauft hat. Möglicherweise dachten sie, sie könnten jemanden, den die Juden zugrunde gerichtet haben, gut für ihre Zwecke einspannen.«
    »Sehr gut denkbar«, gab Mitrofani zu.
    »Es läuft in jedem Fall darauf hinaus, dass ich nach Shitomir fahren muss; wie man es dreht und wendet, die Fäden laufen dort zusammen.«
    »Aber es ist gefährlich«, wandte der Bischof besorgt ein. »Falls du Recht hast, haben wir es hier mit äußerst skrupellosen Menschen zu tun. Wenn sie herausfinden, weshalb du dort bist, werden sie dich umbringen.«
    »Woher sollten sie es erfahren?«, lächelte Matwej Ben-zionowitsch pfiffig. »Dort kennt mich doch kein Mensch. Außerdem müssen wir uns nicht über mich Gedanken machen, Eminenz, sondern über sie.«
    »Wie sehr ich dich beneide, Matwej!«, rief der Bischof mit Bedauern. »Du kannst handeln. Aber ich kann überhaupt nichts tun, höchstens beten.«
    »Höchstens?« Der Staatsanwalt schüttelte in gespieltem Vorwurf den Kopf. »Was für eine Herabsetzung des Gebetes, und das aus dem Munde eines Geistlichen!«
    Dann ließ sich Matwej Benzionowitsch den Segen erteilen. Er wollte dem Bischof die Hand küssen, aber Stattdessen wurde er an den Schultern gepackt und so kräftig an die breite bischöfliche Brust gedrückt, dass er beinah erstickte.
    Offenbar war mit Berditschewski tatsächlich eine grundlegende Veränderung vorgegangen – weniger was das Außere anbelangt, als vielmehr bezüglich seiner inneren Natur.
    Während er sich auf seine Reise nach Shitomir vorbereitete, kam es ihm keine Sekunde lang in den Sinn, sich wegen irgendwelcher möglichen Gefahren zu beunruhigen. Dabei hatte es doch früher, auf Grund seiner ausgeprägten Fantasie, weitaus geringerer Prüfungen bedurft, um ihn in Angst und Schrecken zu versetzen – wie zum Beispiel eine öffentliche Ansprache im Klub oder

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