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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Fährmann verabschiedet hatte, ging er nicht sofort zurück in die Stadt, sondern spazierte zuerst am Ufer entlang bis zu einer einsamen Hütte, ebenjener unheimlichen Hütte, die in unserer Erzählung schon mehr als einmal vorkam. Von der Landzunge aus war es überhaupt nicht weit: hundert Schritt bis zur Abdankungskapelle, und dann noch etwa hundertfünfzig Schritt.
    Der Klosterbruder umrundete das unansehnliche Häuschen und warf durch das staubige kleine Fenster einen Blick hinein. Er presste die Wange an die Scheibe und fuhr mit den Fingern über das grob eingeritzte Kreuz mit den drei Querbalken. Er sagte nur ein einziges Wort: »Aha.«
    Dann ging er plötzlich in die Hocke und fing an, mit den Händen in der Melde zu scharren. Er hob einen winzigen Gegenstand auf, hielt ihn dicht vor die Augen (das Licht des Herbsttages erlosch allmählich, man konnte nur noch schlecht sehen) und sagte zum zweiten Mal: »Aha.«
    Von da aus ging der Knabe furchtlos zu der vernagelten Tür und rüttelte daran. Als sich die Tür zwar knarrend, aber ziemlich leicht öffnen ließ, musterte er aufmerksam die aus dem Türflügel ragenden Nägel. Er nickte vor sich hin.
    Dann ging er hinein. Im Halbdunkel war ein grob gezimmerter Tisch zu erkennen und darauf ein offener Sarg, dessen Deckel auf dem Boden lag. Der Klosterbruder betastete den Sarg hier und da, hob aus irgendeinem Grunde den Deckel auf, legte ihn an seinen Platz und klopfte von oben leicht darauf. Mit einem Knirschen fiel der Deckel zu.
    Der Jüngling ging zum Fenster, wo zwei Strohsäcke lagen. Aus irgendeinem Grunde schichtete er sie aufeinander. Dann kletterte er mit einem besorgten Blick auf das schnell schwächer werdende Licht im Fenster auf eine Bank und fuhr mit der Handfläche über die glatt geschliffenen Balken an den Wänden. Er begann ganz oben, unter der Decke, fuhr über die folgende Reihe und ging dann tiefer und immer tiefer. Als er seine geheimnisvolle Handlung an der einen Wand beendet hatte, ging er zur nächsten Wand und beschäftigte sich noch lange mit dieser seltsamen Tätigkeit.
    Als sich die Fensterscheibe von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne rosa färbte, sagte Pelagi zum dritten Mal: »Aha!« – dieses Mal freudiger und lauter als zuvor.
    Er zog eine Stricknadel aus seinem Leibrock, stocherte damit an einem der Balken herum und zog mit den Fingern etwas ganz Winziges hervor, nicht größer als eine Kirsche.
    Länger hielt er sich nicht in der Hütte auf.
    Schnellen Schrittes ging er den verlassenen Weg entlang in Richtung Neu-Ararat, und eine halbe Stunde später befand er sich bereits auf der Uferstraße, bei den Automaten mit dem heiligem Wasser.
    Er ging zunächst daran vorbei (es waren zu viele Leute unterwegs), passte den richtigen Moment ab und schlüpfte durch den Spalt zwischen dem Pavillon und dem Zaun.
    Zehn Minuten später trat eine bescheidene junge Dame hinaus auf die Promenade, das Gesicht bis zu den Augen in ein schwarzes Pilgertuch gehüllt – wahrscheinlich eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, denn um diese Abendstunde hätte man den blauen Fleck ohnehin nicht gesehen.
    Einiges klärt sich
    Am Abend schrieb Polina Andrejewna in ihrem Zimmer einen Brief.
    An Bischof Mitrofani, dem ich Licht, Freude und Stärke wünsche!
    Wenn Sie, Vater, diesen meinen Brief lesen, dann bedeutet das, dass mich ein Unglück ereilt hat und ich keine Möglichkeit hatte, Ihnen alles selbst zu erzählen. Aber was heißt »Unglück«? Vielleicht ist das, was die Menschen gewöhnlich als Unglück bezeichnen, in Wahrheit eine Freude, denn was soll Schlimmes daran sein, wenn der Herr jemanden von uns zu sich beruft? Selbst wenn er uns nicht zu sich ruft, sondern einer schweren Prüfung unterzieht, gilt es nicht betrübt zu sein, sind wir doch ebendeshalb in diese Welt geboren – um Prüfungen zu bestehen.
    Aber was predige ich Ihnen, dem Seelenhirten, das Offensichtliche? Verzeihen Sie mir, die ich so töricht bin.
    Aber mehr noch bitte ich um Verzeihung für meinen Betrug, mein eigenmächtiges Handeln und meine Flucht. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie um Ihr ganzes Geld gebracht und oft mit meinem Starrsinn verärgert habe.
    Nun, und jetzt, da Sie mir vergeben haben (wie sollten Sie mir nicht vergeben, wenn mir doch ein Unglück geschehen ist?), komme ich direkt zur Sache, denn es gibt viel zu notieren, und ich habe heute Nacht noch etwas zu erledigen. Doch darüber erst ganz zum Schluss. Zunächst werde ich Ihnen alles der Reihe nach

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