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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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meinem Körper untreu, nicht aber mit meiner Seele. Und er hatte Recht! Die Kameraden jedenfalls respektierten ihn.«
    Lagranges Geschichte brachte seinen Gesprächspartner in Verlegenheit. Er blinzelte mit seinen Schafsaugen und breitete die Arme aus.
    »Ja, das ist wohl kein richtiger Verrat. . . Obwohl ich mich mit dieser Art Liebe nicht auskenne . . .«
    Felix Stanislawowitsch hatte Schlappschwänze noch nie leiden können, doch an diesem Wunderling fand er aus irgendeinem Grunde großen Gefallen. Und zwar so großen, dass er – unglaublich! – plötzlich gar keine Lust mehr hatte, ihn auszuhorchen, und sich über sich selbst wundern musste.
    Anstatt nun bei diesem idealen Informanten Erkundigungen über den Verdächtigen einzuziehen (Doktor Korowin zählte für Felix Stanislawowitsch zu den verdächtigen Personen), fing der Polizeimeister unvermittelt in einer für ihn ganz untypischen Weise an:
    »Hören Sie, mein Herr, das ist mein zweiter Tag hier auf der Insel . . . Das heißt, streng genommen sogar der erste, denn ich bin erst gestern Abend angekommen . . . Ein seltsamer Ort, so ganz anders als überall sonst. Was man auch anpackt, was man sich auch ansehen will – alles verschwimmt wie im Nebel. Sie sind doch schon lange hier?«
    »Das dritte Jahr.«
    »Dann sind Sie wohl daran gewöhnt. Sagen Sie mir doch ganz offen und unverhüllt, was halten Sie von all dem?«
    Die beiden letzten Worte waren für den Oberst, der sich gewöhnlich klar und deutlich ausdrückte, geradezu merkwürdig nebulös, und er unterstrich sie mit einer unbestimmten Gebärde, als wolle er das Kloster, die Stadt, den See und sonst noch etwas umfassen.
    Nichtsdestoweniger begriff sein Gesprächspartner sehr gut, wovon er redete.
    »Sie meinen den schwarzen Mönch?«
    »Ja. Glauben Sie an ihn?«
    »Daran, dass viele ihn tatsächlich gesehen haben? Das glaube ich, da habe ich überhaupt keinen Zweifel. Man braucht den Leuten nur in die Augen zu sehen, wenn sie davon erzählen. Sie lügen nicht, ich merke sofort, wenn jemand lügt. Eine andere Frage ist, ob sie etwas gesehen haben, das wahrhaftig existiert, oder lediglich das, was ihnen gezeigt wurde . . .«
    »Wer hat es ihnen gezeigt?« Lagrange spitzte die Ohren.
    »Nun, das weiß ich nicht. Schließlich sehen wir alle, jeder von uns, nur das, was uns gezeigt wird. Vieles, was wahrhaftig existiert und was andere Menschen sehen, sehen wir nicht, im Gegenzug dazu wird uns gelegentlich etwas gezeigt, was nur für unseren Blick bestimmt ist. So etwas kommt gar nicht so selten vor. Früher hatte ich beinahe jeden Tag eine Erscheinung. Genau das war meine Krankheit, wie ich heute weiß. Wenn einem Menschen zu oft etwas gezeigt wird, was nur er sehen soll, dann ist das wahrscheinlich Wahnsinn.«
    Ach, Bruder, wir kommen nicht zusammen, dachte der ge-nasführte Oberst. Es war an der Zeit, die fruchtlose Unterhaltung zu beenden, er hatte ohnehin den halben Tag nahezu umsonst vertan. Um der unnützen Begegnung wenigstens irgendeinen Sinn abzugewinnen, fragte Felix Stanislawowitsch:
    »Würden Sie mir nicht vielleicht zeigen, in welche Richtung von hier die Landzunge liegt, wo sich das Gespenst am häufigsten zeigt?«
    Der Blonde erhob sich beflissen, trat zum Geländer und erklärte:
    »Sehen Sie den Stadtrand? Dahinter ist ein großes Feld, dann kommt der Schiffsfriedhof, dort, wo die Masten aufragen. Weiter links schimmert etwas Weißes, das ist der verlassene Leuchtturm. Der braune Kegel, das ist die Abdankungskapelle, wo die Totenmesse für die Eremiten gelesen wird. Daneben zieht sich ein schmaler Streifen ins Wasser, der wie ein Finger auf die kleine Insel weist. Diese kleine Insel ist die Einsiedelei, und der Streifen ist die Landzunge. Dort drüben, zwischen der Kapelle und der Hütte des Bakenwärters.«
    »Eine Hütte?«, vergewisserte sich der Oberst stirnrunzelnd. War das vielleicht die Hütte, von der Lentotschkin geredet hatte?
    »Ja, wo dieser entsetzliche Vorfall geschehen ist. Es gab sogar zwei Vorfälle: zuerst die Frau des Bakenwärters, und dann dieser junge Mann, der nackt in die Klinik gelaufen kam. Er ist dort übergeschnappt, in der Hütte.«
    Der Polizeimeister durchbohrte den Ortsansässigen mit seinem Blick.
    »Woher wissen Sie, dass es genau dort war?«
    Der andere drehte sich um und klimperte mit seinen hellen Wimpern.
    »Wo denn sonst? In der Hütte hat man am Morgen seine Kleider gefunden, ordentlich zusammengelegt. Auf einer Bank. Und seine Halbstiefel und den

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