Pelbar 1 Die Zitadelle von Nordwall
nehmen das nicht allzu wörtlich, und so versuchen wir, nicht zu töten und nicht getötet zu werden, dazu müssen wir noch eine Bindekraft für die Völker des Heart-Flusses darstellen. Das ist eine tief verwurzelte, religiöse Pflicht bei den Pelbar. Leider hatte sie bisher wenig Wirkung auf die Sentani oder die Shumai, die uns töten, wann immer sie außerhalb der Friedenswoche Gelegenheit dazu finden, und soweit ich sehe, eigentlich ohne Grund. Und doch hat innerhalb der eigenen Gruppe jeder Stamm ein genauso strenges Gefühl für Ehre wie die Pelbar. Wir haben versucht, missionarisch zu wirken, aber alle unsere Missionare wurden getötet. Dieser eine Punkt, das gegenseitige Töten, ist es, was alle Völker voneinander trennt.«
»Jestak«, sagte ein Gardist von der Tür her. »Die Shumai sind am Mitteilungsstein. Sie haben ihre Nahrungsmittel geholt und warten jetzt. Anscheinend wollen sie mit uns reden.«
»Danke, Jod«, sagte Jestak, erhob sich und ging.
Auf der Mauer sagte er zu Manti: »Es gefällt mir nicht, daß so viele da sind. Ihr Schwur gilt nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich in Sicherheit bin, und das bin ich jetzt. Sie sind nun ihres Schwures ledig und könnten mich töten.« Dann nahm er das Megaphon und rief hinunter, daß er sich nur mit einem Mann treffen würde. Eine Minute später zogen sich die anderen hundert Armlängen weit zum Fluß hin zurück.
Jestak ließ sich an einem Seilgalgen über die Mauer in den Schnee hinunter. Der Shumai war Thro. »Wie geht es der Frau?« fragte er.
»Das wolltest du also wissen? Wie es der Frau geht?«
»Ja. Es geht uns gegen den Strich, eine Frau zu verletzen.«
»Sie ist sehr schwach. Man sagt, sie überlebt es vielleicht nicht. Aber sie will, daß niemandem ein Vorwurf gemacht wird.«
»Aii. Ich habe nicht auf sie gezielt, sondern auf den Sentani.«
»Das hat sie uns allen deutlich gesagt.«
»Sie ist ziemlich hell und sieht aus wie eine Shumai.«
»Ihre Großmutter wurde vor vielen Jahren als kleines Kind hier am Mitteilungsstein gefunden.«
»Hier?«
»Ja. Man hat sie hineingeholt, im Laufe der Zeit wurde sie eine große, mächtige Anführerin der Pelbar und hat viel Gutes getan.«
Die beiden Männer sahen sich an, der kalte Wind fuhr ihnen durchs Haar, erfaßte ihren Atem und riß ihn vom Munde.
»Dann muß sie«, sagte Thro, »das Mädchen aus der Legende vom Flußkind gewesen sein. Es gibt bei uns ein Lied darüber, sie wurde einem Axtschwinger und seiner Braut geboren, von einem eifersüchtigen Riva-len entführt und am Stein bei Nordwall ausgesetzt, wo sie im Herbst sterben sollte.«
»Vielleicht. Wenn ihr noch etwas braucht, werden wir es euch geben. Wenn ihr in Pelbarigan haltmacht und vom Mitteilungsstein aus hinaufruft, wird man euch Vorräte geben, wenn ihr den Namen Manti nennt. Aber nennt nicht meinen Namen.«
»Deinen Namen sollen wir nicht nennen?«
»Nein. Ich bin hier in der Verbannung. Ich gebe mich zu viel mit den Außenstämmen ab.« Er lachte.
Thro wollte anscheinend nur ungern gehen. Endlich griff er unter seinen Mantel und nahm eine Kupferkette mit einem runden Bronzeanhänger von seinem Hals.
»Das ist für die Frau«, sagte er. »Wie heißt sie?«
»Ursa.«
»Dann leb wohl!« Sie legten die Handflächen aneinander, wie Jestak es im Hirschmonat mit Waldura getan hatte. Thro drehte sich schnell um und ging fort, ohne zurückzuschauen.
Von der Mauer aus sagte Manti zu seinen Wachtposten. »Das ist höchst ungewöhnlich. Wir werden hier allmählich zu einem Treffpunkt für die Leute von draußen, und Jestak empfängt sie alle und scheidet in Freundschaft von ihnen.«
»Ich freue mich, daß es dir besser geht, Ursa«, sagte Winnt. Die alte Frau saß wieder in der Ecke, offenbar, vermutete Winnt, als Anstandsdame ohne Wächterin.
»Ich bitte dich, Ibar, laß mich mit Winnt alleine sprechen, wenn es möglich ist«, sagte Ursa.
Ibar erhob sich wortlos und verließ den Raum, dabei warf sie Winnt einen prüfenden Blick zu. »Dieser Blick allein«, seufzte Winnt, »würde mich zwingen, mich anständig zu benehmen, selbst wenn ich schlechte Absichten hegte.«
»Ich könnte keine Absicht, die du mir gegenüber vielleicht hast, als schlecht bezeichnen, Winnt.«
»Was?«
Sie gab keine Antwort. Schließlich neigte Winnt seinen Kopf zu ihr hinunter und sagte in ihre Schulter hinein: »Kleine Frau, ich bin froh, daß es dir besser geht. Bald muß ich nach Norden aufbrechen, aber ich könnte nicht gehen, wenn du in
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