Pelbar 2 Die Enden des Kreises
gro-
ßen Tier, aber es verwandelte sich nicht in Ahroe. Es schien immer höher aufzuragen, zu wachsen und zu verblassen. Schließlich kaute Stel einen ganzen Streifen Rindfleisch in der Nacht, aber die Dunkelheit brachte immer noch sich jagende Phantasien mit sich.
Stel hatte sogar aufgehört, Flöte zu spielen. Er versuchte sich die Lieder vorzudenken.
Als endlich sein Rindfleisch zu Ende ging, obwohl er es sich sorgfältig einteilte, sah er, in der pechschwarzen Dunkelheit, zusammengekauert und vor Kälte zitternd, ein, daß er sich irrte. Er mußte selbst von sich abgeben. Wenn der alte Mann zurückhielt, was er brauchte, war das nicht seine Sache. Er sollte also allein hier sterben. Er würde sterben und dabei er selbst bleiben, nicht nur er selbst, sondern der beste Stel, den er kannte. Er wollte spielen und setzte sich in den Schlafsack gewickelt auf. Seine Finger verweigerten ihm den Dienst, selbst bei langsamen Liedern.
Die Ergebnisse waren über alle Maßen schwerfällig.
Stel lachte im stillen, dann laut. Er versuchte es wieder, aber es wurde nicht besser. Er spielte die Hymne an die Frühjahrshochflut, die den Pelbar in Zeiten der Feindseligkeit soviel Holz gebracht hatte, daß sie wie ein Geschenk Avens erschien. Dann spielte er sie noch einmal.
Beim dritten Mal ertönte Scules Stimme von oben: »Hör auf! Wenn du spielen willst, dann spiele richtig, sonst laß es!«
»Meine Hände sind zu kalt.«
»Dann hör auf!«
»Und wenn ich es nicht tue? Wirst du mir dann die Rationen völlig vorenthalten?«
»Vielleicht.«
»Ich werde aufhören.«
»Du brauchst nicht aufzuhören. Spiel richtig!«
»Du verstehst mich anscheinend nicht. Ich würde ja, wenn ich könnte. Ich friere zu sehr, und ich bin zu hungrig. Weißt du, daß du mich langsam tötest? Aber da es dich stört, werde ich aufhören. Ich werde auf die Töne in mir lauschen, die nicht von meinen Fingern abhängig sind.«
Nach einem Schweigen sagte Scule von oben: »Ich habe sie gesehen.«
»Was?«
»Wie kannst du hungrig sein? Warum kommst du zurück? Ich habe die Spuren gesehen.«
»Was für Spuren?«
»Das Teufelstier. Du bist das Teufelstier. Du machst die Spuren, dann kehrst du zurück, um mich zu verspotten.«
»Nein, alter Mann. Du bist das Teufelstier. Es ist in dir. Es wird dich nie in Ruhe lassen, weil du es hegst und pflegst.« Stel war plötzlich in leichtsinniger und verspielter Stimmung. »Nachts, wenn der Mond zu-nimmt, wirst du zum Tier. Du atmest auf mich herunter, geifernd, und sagst zu dir selbst: ›Was kann ich diesem Stel jetzt antun, um ihn zu quälen? Ich bin ein Dahmen. Ich muß Menschen quälen. Ich kenne nichts anderes. Berühren bedeutet quälen. Meine Hände sind Klauen, ich muß reißen und zuschlagen. Ich war dumm genug, Stel hinter diese Steinmauern zu stek-ken, also muß ich die Klauen von Hunger und Kälte, von Schweigen und jeder anderen Grausamkeit einsetzen, um ihn damit zu erreichen.‹ Du bist das Tier.
Aber ich bin jetzt weiter gegangen als du. Ich bin im Nebel. Deine Klauen reißen an mir, können mich aber nicht verletzen. Nur der Körper blutet, nicht die Seele. Ich weiß jetzt, was du fürchtest und immer ge-fürchtet hast. Du fürchtest nicht die Dahmens. Du fürchtest nicht mich. Du fürchtest nicht einmal das große Tier. Du fürchtest dich selbst. Du bist hierher in die Berge gekommen in der Hoffnung, nie gefunden zu werden, und hast dich doch mit aller Raffinesse darauf vorbereitet, weil du Angst vor dem hast, was du tun könntest. Das hat Visib für dich – oder dir – getan. Vielleicht hast du geglaubt, du hättest sie ge-tötet. Aber du mußt sie jeden Tag in Gedanken, in deinem Abscheu vor alledem, immer und immer wieder töten. Ich sehe jetzt, daß du das Unaussprechliche nie getan hast. Du fürchtest nur die Möglichkeit, und das, was du in deiner Verzweiflung getan hast.
Und dafür danke ich dir.«
»Du lügst schon wieder«, schrie Scule durch das Loch herunter. Dann: »Warum dankst du mir?«
»Es ist Schuld, Scule. Ich sehe es jetzt. Ich habe das Tier als Ahroe gesehen. Meine Frau Ahroe. Ich habe es als mich selbst gesehen. Aber so ist es nicht. Das Tier sind eigentlich die Umstände, und vielleicht die Schwäche in uns, deshalb ist es das, was wir tun, was in uns aufsteigt, wenn schlimme Zeiten kommen.
Aber wenn es Frühling wird, werfen wir unsere zot-tigen Mäntel ab. Wenn es Zeit ist, wieder zu essen, tun wir es, weil wir die letzte Mahlzeit verbraucht haben und damit
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