Pelbar 4 Der Fall der Muschel
musterte.
»Ich heiße Misque«, sagte sie. »Sentani von der Langgrasbande. Ich suche nach einer Zuflucht. Könnt ihr mich aufnehmen? Wir sind von den verfluchten Peshtak ausgelöscht worden. Ich habe gerade gebadet und mich in den Binsen versteckt. Nur deshalb bin ich noch am Leben.«
»Wie viele?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe ziemlich viele gesehen. Habe viele Stimmen gehört. Sie haben eine Bande von neunundvierzig Leuten getötet. Bis auf mich.«
»Neunundvierzig! Aven helfe uns! Warum bist du nicht nach Koorb gegangen? Oder nach Norden?«
»Ich dachte, sie wollten dorthin. Nach Süden. Ich weiß nicht. Ich habe solche Angst. Kann ich bleiben?«
»Das wird die Protektorin entscheiden. Komm inzwischen mit uns und iß etwas! Wir werden es ihr sagen.«
Gind legte Udge im Breiten Turm das Problem vor.
Sie schob nachdenklich die Unterlippe nach vorne.
»Ein Sentanimädchen? Wie alt?«
»Ungefähr vierzehn. Wir haben sie nicht gefragt.«
»An einem Mädchen kann ich nichts Schlimmes finden. Was meinst du?«
»Wir wissen nichts von ihr, Protektorin. Sie könnte eine Spionin sein.«
»Arbeiter können wir sicher brauchen, besonders junge Frauen. Haltet sie wie üblich unter Beobach-tung, Gind! Nehmt sie auf! Seht, wie sie arbeitet! Gebt ihr Routineaufgaben! Das wird eine Prüfung für sie sein.«
»Ja, Protektorin.«
Jenseits des Flusses wartete Steelets Kundschafter-trupp den ganzen Tag. Misque tauchte nicht wieder auf. In Hochstimmung klopften sie einander auf die Schultern. Die Hauptbande befand sich ungefähr achtzehn Ayas weiter westlich, ruhte sich aus und wartete auf Nachricht. Diesmal würden sie Erfolg haben. Steelet war sich ganz sicher.
ACHTZEHN
Bival saß über ihre Lampe gebeugt und las das Manuskript, das Brudoer sorgfältig abgeschrieben hatte.
Wieder artikulierte Craydor, wie unsicher sie war: Ich zittere, wenn ich an die Unbeweglichkeit, die Ausschließlichkeit der Organisation dieser Gesellschaft denke. Ist alles ein Fehler? Hätte ich es je einführen sollen?
So, wie ich die menschliche Neigung kenne, Institutio-nen einzufrieren, bloße Vorgehensweisen zu letztendli-chen Wahrheiten zu verherrlichen, habe ich da bei dem Versuch, eine vollständig verteidigte, zum Wachstum fähige Gesellschaft zu schaffen, nicht einfach eine mit nicht zu beseitigenden Schranken eingemauert? Ich habe Vorschläge zur Veränderung und zum Wachstum gemacht, aber sie wurden nicht angenommen. Meine Worte über profane Dinge wurden als letzte Wahrheiten angesehen, obwohl ich nicht glaube, daß diese Worte von Aven offenbart wurden oder sich auch nur mit letzten Dinge befassen – nur mit gesellschaftlicher Organisation in dieser Zeit der Feindseligkeit. Ich lebe jetzt in meinen letzten Tagen in Qualen. Ich hoffe nur, daß künftige Ge-nerationen die Unabhängigen wie auch die Treuen um-fassen werden, und daß sich Threerivers entwickelt und verändert, ohne von unserer idealen Verehrung Avens abzugehen. Aber was ist, wenn es nicht so kommt? Ich bin mit Vernunft und Planung am Ende, jetzt kann ich nur noch beten.
Bival seufzte und blickte auf. Warret schlief fest nach einem Tag schwerer Arbeit, aber schon war genügend Sand in die rote Schale gelaufen, um den Pfosten zu kippen und die kleine Weckerglocke anschlagen zu lassen. Es war Zeit, daß er seinen Wachdienst antrat.
Sie schüttelte ihn sanft. Er wachte nicht auf. Sie rüttelte ein wenig fester. Er stöhnte, bewegte sich aber nicht. Da nahm sie sein Kurzschwert, schnallte es sich um und verließ den Raum, um für ihn die Wache zu übernehmen. Warret schlief weiter.
Als sie die Terrassen abschritt, bemerkte sie Misque in den Schatten nicht. Als Bival mit Warrets Runde fertig war und durch die obere Korridortür wieder eintrat, warf Misque hinter dem Wasserturm eine Nachricht, an ein Stück weißes Tuch gebunden, hinunter.
Von unten hörte sie ein leises Klicken, also schlich sie weg, die gewundene Treppe hinab in das ihr zuge-wiesene Zimmer. Ihre Hände waren vom Wasserheben und von der Gartenarbeit voller Blasen. Sie rieb sie mit Bohnenöl ein und kroch ins Bett zurück.
Am späten Vormittag erhielt Annon ihre Nachricht, er rollte sie auf und las: In zwei Wochen, bei Neumond, werde ich gleich nach Mitternacht zwei Strickleitern an der Vorderterrasse hinunterlassen. Sie gewöhnen sich hier langsam an mich, aber sie beobachten mich. In der Stadt gibt es hauptsächlich Frauen, weil viele Männer fort sind. Die meisten die hiergeblieben sind, sind
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