Pelbar 6 Das Lied der Axt
Form unserer Na-se, die Farbe unseres Haares, unsere Stellung in der Gesellschaft. Sie sind wir. Wo immer ich Güte sehe, erkenne ich die Gegenwart von Anse, denn das, was er verkörperte, ist da. Wo immer ich Mitgefühl sehe, ist er auch da. Nicht, weil er diese Eigenschaften be-saß, sondern weil sie ihn besaßen. Sie sind größer als der Mensch.
Diese Dinge sind nicht nur auf Menschen beschränkt, man findet sie überall in der Welt rings um uns. Die Vogelmutter, die ihre Jungen füttert, ist einfach eine andere Stimme der Eigenschaft der Liebe.
Die Wildrose strahlt die Eigenschaften Sanftheit und Schönheit aus. Wir wissen das, weil unsere gesamte Dichtung Dinge zueinander in Beziehung setzt, die vielleicht verschieden erscheinen, die aber diese Eigenschaften gemeinsam haben. Sogar in den ver-derbtesten Menschen sind sie zu erkennen. Sie sind Grundstoff und Faser des Seins. Sie zeigen im Grunde die ... Einheit alles Guten.«
Tristal verstummte, ohne es zu merken. Er hatte verzweifelt etwas zusammengeredet, um die Iyunwah zu beruhigen und jedem Versuch, ihn zu töten und zu begraben, zuvorzukommen. Dabei war er in das hineingeraten, was Tor ihm immer und immer wieder zu sagen versucht hatte. Er merkte, daß er in diesem Zusammenhang plötzlich daran glaubte. Verzweifelt versuchte er, sich noch etwas einfallen zu lassen, was er sagen konnte. Er senkte den Kopf und sprach: »Wenn ihr nun euren Freund ins Grab senkt, geht ihr nur den letzten Schritt des Weges, den er, wie ihr alle, vor langer Zeit begonnen hat, des Weges, auf dem man über den Körper hinauskommt.
Das hat Anse getan. Er ist fertig mit seinem Körper.
Er braucht ihn nicht mehr. Aber ihr seid noch nicht fertig mit ihm. Ihr werdet ihn sehen, wenn ihr gütig, wenn ihr neugierig seid. Ihr werdet ihn ablehnen, tö-
ten, wenn ihr grausam und stumpf seid. Niemand will sich selbst grausam fühlen. Oder stumpf. Oder abscheulich. Das ist gut und zeigt unsere Liebe zu der Identität, die aus uns spricht. Auf diese Weise lebt Anse noch, und auf diese Weise könnt ihr ihn in euren Gedanken am Leben erhalten. Denn ihr haltet nicht nur ihn allein am Leben, sondern euch selbst und alle Dinge. Ihr zeigt, daß ihr eins seid mit ihnen.
Jetzt haben wir ihn lange genug warten lassen, er möchte vielleicht, daß sein Körper den Blicken entzogen wird, damit seine Lieben sich des wahren Teils von ihm bewußt werden können.«
Tristal faltete die Hände, schaute zu Boden und fragte sich dabei, was wohl als nächstes geschehen würde.
»Du willst nur dein eigenes Leben retten«, murmelte ein dicker Mann.
»Halt dein Maul und leg Anse ins Grab!« rief die alte Frau. »Das war eben die beste Rede, die du je ge-hört hast, und jetzt willst du sie verhunzen!«
Mehrere Leute lachten, gingen auf Anses Sarg zu, senkten ihn ins Grab und warfen Hände voll Erde darauf. Sie schienen nüchterner geworden. Während der Abend dunkelte, stolperten sie den Hügel hinunter und überließen es Tristal, das Loch alleine zuzuschütten. Er begann damit. Zuerst zitterten ihm die Hände. Dann legte sich die Angst in seinem Inneren.
Was hatte er gesagt? Wo war es hergekommen? Was hatte es zu bedeuten? Er war nicht einmal sicher, daß er selbst daran glaubte, aber er wußte, daß es ihm das Leben gerettet hatte.
Ehe er fertig war, stapfte ein Wächter mit einem Hund den Hügel herauf, um ihn zu holen. Der Mann hatte etwas zu essen dabei. Tristal hatte damit ge-rechnet, sein Abendessen zu versäumen, wie es in der Regel der Fall war, aber er bekam Seehundsfleisch, gut gebraten und gewürzt, und Kartoffeln in einer köstlichen Sauce.
Der Wächter stand schweigend neben ihm, während er aß, dann sagte er: »Du. Mach dich sauber! Du sollst zu Gouverneur Watomie kommen.«
Tristal hatte noch nicht einmal gehört, daß es einen Gouverneur gab. Was immer das zu bedeuten hatte, gut war es sicher nicht. Die Hauptregel für einen Sklaven lautet, nicht aufzufallen, und zu einem Gouverneur gerufen zu werden, war in der Hinsicht sicher nicht der beste Weg.
Er war sich dessen noch sicherer, als er zwischen Wächtern die breiten Steinstufen zum Haus des Gouverneurs hinaufstieg und durch das große, geschnitzte Portal ging. Dann wurde er unter den Blik-ken vieler Menschen einen Gang entlanggeführt, vor einer anderen Tür blieben sie stehen. Hier legte ihm ein rothaariger Wächter kupferne Handschellen an, die Türen öffneten sich, und er sah einen großen Raum mit Steinboden und hohen Fenstern
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