Pelte, Reinhard
Situation aus jüngerer Vergangenheit. Sie stürzten ihn in ein ambivalentes Gefühlskonglomerat und lenkten ihn für kurze Zeit ab.
»Sie haben auch Ihre Urkunde und den Orden liegen lassen, Herr Oberrat«, bemerkte Petersen simpel. »Die werden sich schon melden. Deswegen müssen Sie sich keinen Kopf machen.«
»Sie haben recht, Petersen. Ich kehre nicht um.« Jung vergaß die Sache schnell.
Als sie die Ballastbrücke entlangfuhren, entdeckte Jung im Südwesten, hinter der Spitze der Nikolaikirche, ein winziges Wolkenloch. Ein dünner, fahler Sonnenstrahl fiel auf den Kirchturm. Übermorgen ist Heiligabend, und das Wetter stellt sich um wie auf Bestellung, und wie wir es gewohnt sind, dachte Jung. Er gab sich der trügerischen Hoffnung hin, dass die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr ähnlich wie in den letzten Jahren verlaufen würden: ruhig und ohne große Aufregung.
Weihnachten
Jung war froh, als die Weihnachtstage hinter ihm lagen. Nicht, dass er für Feste nicht empfänglich gewesen wäre. Er liebte die Musik, die zu diesem Freudenfest komponiert worden war. Bachs Weihnachtsoratorium oder die Concerti grossi von Corelli, Geminiani, Vitali und Torelli verströmten einen Geist, den er bewunderte und verehrte und der ihm guttat. Er übernahm auch ohne Murren den Einkauf und das Aufstellen des Weihnachtsbaums. Es hätte ihm etwas gefehlt, wenn Svenja auf jede Weihnachtsdekoration verzichtet hätte sie bewies darin viel Geschmack und Stilgefühl. Zudem empfand er es als gute Sitte, sich an diesem Freudenfest gegenseitig zu beschenken, da er gerne schenkte.
Allerdings verspürte er bereits seit etlichen Jahren, dass das weihnachtliche Gedöns, das schon im November einsetzte, und das erst am Vormittag des 24. sein überkandideltes, hektisches Ende nahm, den festlichen Anlass mehr und mehr verdrängte und ihm mächtig auf die Nerven ging. Er hasste es, wie der gemeine Geschäftssinn alles und jedes zu Geld machte. Neben den lauten Jubelschreien oder dem aufdringlichen Jammern und Zetern des Einzelhandels über die Umsatzzahlen verkam die frohe Botschaft zum Gewimmer verbohrter, weltfremder Spielverderber. Er hätte dieser Pervertierung, so sah er das, gerne etwas Starkes entgegengesetzt. Etwas, das er gelernt hatte und beherrschte und das ihn in die Lage versetzt hätte, den Geist des Festes festzuhalten, und sich seiner Familie unaufdringlich mitzuteilen. Denn das schien ihm das Wichtigste zu sein, was Eltern ihren Kindern schenken konnten. Predigten von der Kanzel lauschte er nicht mehr. Zu oft schien es ihm, als werde er da zum Objekt plumper Belehrungsversuche degradiert oder zum Zuhörer uninspirierter Vorträge und Drohreden missbraucht. Predigten leisteten seiner Meinung nach nicht, was zum Beispiel das weihnachtliche Musizieren mit anderen, und das Einüben der Partien zu Hause spielend vermittelten. Er wünschte sich eine Atmosphäre schaffen zu können, in der der Duft von Weihnachtsbäckerei und Kerzenlicht nicht nur in die Nasen stieg, sondern auch ganz andere, subtilere Ebenen stimulierte. Dass das möglich war, davon war er überzeugt, weil er es selbst so erlebt hatte.
Seine Mutter hatte ihn schon in jungen Jahren zum Geigenunterricht geschickt und streng darauf geachtet, dass er regelmäßig übte. Das war nötig, denn er hatte kein Talent. Er selbst spürte es. Das Spiel strengte ihn an und ließ ihn unbefriedigt zurück. Er gewann nie eine spielerische Leichtigkeit, die ihn freudig bei der Stange gehalten hätte. Aber seine Mutter und seine Lehrer zwangen ihn weiterzumachen. Er hasste sie dafür, noch heute, denn zumindest die Lehrer hätten es besser wissen müssen. Sie waren gute Musiker und es wäre ihre Pflicht gewesen zu sagen, dass seine Versuche auf der Geige verlorene Mühe und Zeit waren, die woanders besser von ihm hätten genutzt werden können. Später fragte er sich oft, was sie dazu bewogen haben mochte. Die Motive seiner Lehrer schienen ihm auf der Hand zu liegen. Als Musiker waren sie seinerzeit arme Schlucker und mehr oder weniger gezwungen gewesen, jede Geldquelle am Sprudeln zu halten. Dagegen wollte seine Mutter sicherlich nur das Beste für ihren Sohn. Doch ihre Vorstellungen vom Besten, so sah er das, waren stark getrübt und von untauglichen Vorbildern geleitet.
Dennoch lernte er. Nur nicht auf der Geige. Er wurde in jungen Jahren mit klassischer Musik bekannt gemacht, und sie bewegte ihn. Sie stärkte ihn in seinem Urteil über sein Talent, denn an ihrer
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