Pelte, Reinhard
Frau, von der er auf der Stelle wusste, dass sie ihre Schürze abgelegt hatte, bevor sie zur Tür gegangen war. Sie sah ihn aus lebhaften Augen an. Ihr Gesicht strahlte eine Freundlichkeit aus, die alles mit offenen Augen willkommen hieß, was immer ihr begegnete. Dagegen verblassten ihre übrigen Attribute. Über seine ersten Beobachtungen vergaß Jung die ihm sonst selbstverständliche, kritische Betrachtung weiterer Details.
»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie energisch.
»Guten Tag. Mein Name ist Jung. Ich möchte zu Pastor Harmsen.«
»Das tut mir leid, Herr Jung. Der Pastor ist nicht zu Hause. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«
»Sehr nett von Ihnen. Ich glaube, das wird nicht gehen.«
»In welcher Angelegenheit wollen Sie den Pastor denn sprechen?«, fragte sie mit erwachender Neugier.
»Das ist eine längere Geschichte und außerdem privat. Ich müsste selbst mit ihm sprechen.«
»Privates bespricht man nicht zwischen Tür und Angel. Kommen Sie herein. Dann sehen wir weiter.«
Sie machte bereitwillig Platz und winkte ihn mit einer einladenden Geste ins Haus. Jung war von ihrer offenen Freundlichkeit angetan.
Es war wirklich ein echtes Friesenhaus. Die dunkel geflieste Diele war geräumig und von einer Wohnlichkeit, in der man sich fühlte, als sei man endlich nach langer, beschwerlicher Reise in der ersehnten Heimat angekommen. Neben zwei uralten Holztruhen mit reichem Schnitzwerk erzeugte vor allem eine niedrige Holzdecke diesen Eindruck. Die Deckenbretter ruhten auf dicken, unbehauenen Balken. Das Holz hatte die Patina von Jahrhunderten angenommen und vermittelte eine tiefe Geborgenheit. Die Jahre hatten sich in das Gebälk eingegraben wie ein langes, abenteuerliches Leben in das Gesicht eines greisen Seebären. Ein in hellen Farben gehaltener Webteppich aus neuerer Zeit und ein dicker Zinkbottich mit einem riesigen Strauß getrockneter Chrysanthemen sorgten für eine warme Freundlichkeit in dem etwas düsteren Raum. Die Bilder an den Wänden zeigten die Porträts ernster, älterer Herren mit Barett und Beffchen. Eine Galerie der ehemaligen Pastoren von St. Laurentii, dachte Jung.
»Das sind die Vorgänger von Pastor Harmsen. Er selbst sieht natürlich viel besser aus.« Die Frau lachte und öffnete eine niedrige Tür mit uralten Eisenbeschlägen. Jung musste sich ducken, um in die Stube treten zu können. Auch hier empfing ihn die gleiche warme Heimeligkeit wie in der Diele. Ein Kachelofen reichte bis unter die Decke und dominierte den Raum. Das Design war in Blau und Weiß gehalten. Wahrscheinlich kamen die Kacheln aus Delft, dachte Jung. Das Backrohr war mit einer schweren, gusseisernen Klappe verschlossen. Sie war mit Segelschiffen in aufgewühlter See ornamentiert. Schräg gegenüber, vor einer über die Zimmerecke eingebauten Wandbank, standen ein alter Tisch mit Stühlen. Das Holz war auf Hochglanz poliert, die Sitzflächen alt und aus Binsen geflochten, wie Jung vermutete.
»Bitte, setzen Sie sich. Auf der Bank ist es am bequemsten. Mögen Sie einen Tee? Es ist entsetzlich ungemütlich draußen.«
»Sehr gerne«, erwiderte Jung freudig. »Darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe? Bevor man sich von einer fremden Frau, selbst wenn sie so nett ist wie Sie, etwas einschenken lässt, sollte man wissen, wie sie heißt und wer sie ist, nicht wahr?«
Sie lachte über seine offensichtliche Schmeichelei und die umständliche Höflichkeit.
»Entschuldigen Sie. Ich heiße Greta Driefholt. Ich führe das Pastorat. Pastor Harmsen ist unverheiratet«, sagte sie einfach. Sie richtete für einen kurzen Moment den Blick auf die Tischplatte und schloss die Augen. Dann blickte sie Jung an und straffte den Oberkörper. Auch ohne seine Absicht, sie freundlich zu stimmen und eine wohlmeinende Atmosphäre aufkommen zu lassen, hätte Jung sich in ihrer Gesellschaft wohlgefühlt.
»Mögen Sie einen schwarzen oder lieber einen Kräutertee? Ich habe noch …«
»Oh, danke vielmals«, unterbrach sie Jung. »Wenn Sie eine Ostfriesenmischung haben, das wäre für mich das Größte.« Bei dem Gedanken an eine Tasse Tee fühlte er sich noch wohler.
»Sie sind ein Kenner, hab ich recht?« Sie sah ihm anerkennend in die Augen. »Ich mag die Ostfriesenmischung auch am liebsten. Das passt ja wunderbar.«
Jung registrierte, dass nicht nur er sich wohlfühlte. Auch Frau Driefholt schien es immer besser zu gefallen. Sie witterte eine Gelegenheit, sich angenehm unterhalten und ihrem
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