Pelte, Reinhard
gesehen hatte, und er hat sie vom Hof fahren sehen. Danach war sie weg. Punkt, Schluss, aus und vorbei. Daran war überhaupt nicht zu rütteln.«
»Und vor dem Verlassen des elterlichen Hofes, haben Sie da etwas über den Autoverkehr in der Umgebung herausgefunden?«
»Jedes Auto, das gesehen wurde, haben wir überprüft. Da war nichts.«
»Sind Sie da ganz sicher?«
»Ja. Was glauben Sie denn?«
»Ich glaube gar nichts. Ich frage nur.« Jung wappnete sich mit Geduld und Stärke.
»Mein Gott. Was soll das?« Kopper-Carlsons Coolness löste sich zusehends auf. »Das ist doch horrender Unfug. Fragen Sie, was Sie wollen. Aber erwarten Sie nicht, dass Sie auf jede blöde Frage eine Antwort kriegen. Lesen Sie die Akten. Dann können Sie sich Ihre Fragen selbst beantworten.«
»Herr Kopper, der Fall ist bis jetzt nicht aufgeklärt worden. Also muss es offene Fragen geben.«
»Ja klar. Aber nicht an mich.«
Jung ersparte sich und ihm weitere Fragen, obwohl er gerne noch nach dem Fahrradwimpel gefragt hätte.
»Ich bedanke mich für Ihre Bereitwilligkeit mir zu helfen. Es war mir ein Vergnügen«, beendete Jung das Gespräch ironisch.
»Ja, bitte.« Kopper-Carlson hatte aufgelegt.
Obwohl das Gespräch kein Gespräch gewesen war, hatte Jung wichtige Informationen gewonnen. Die Krankheit Imke Carls und die sexuelle Orientierung der Angehörigen war nie Gegenstand von Überlegungen bei der Aufklärung des Falles gewesen. Das Mädchen war vom Hof gefahren und danach verschwunden. Alle Arbeit war in die Überprüfung ihres Weges vom Hof zu ihrem Klavierlehrer geflossen. Diese Überprüfung hatte nichts erbracht. Jung fiel die spontane Reaktion Bolls ein. Hatten sie überhaupt an den richtigen Stellen gesucht? Wenn außerhalb des Hofes nichts von ihr zu finden war, dann eben innerhalb. Aber da war natürlich genug von ihr zu finden, auch ohne Verbrechen. Was hätte denn auf ein Verbrechen hinweisen können?, fragte er sich.
Er kam in seinen Überlegungen nicht weiter und stand deshalb von seinem Schreibtisch auf, um das Fenster zu öffnen. Mit tiefen Zügen atmete er die frische und milde Luft ein, während sein Blick über die Förde in Richtung Ballastbrücke schweifte. Das Eis war bis auf ein paar schwimmende Schollen abgeschmolzen. Der kräftige Wind trieb sie in Richtung Innenförde der offenen See entgegen. Der Himmel sah aus, wie er über Norddeutschland immer aussah, wenn es länger regnete: tiefgrau, nahezu konturlos und deprimierend eintönig.
Jung schloss das Fenster und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Die kurze Sauerstoffdusche hatte sein Hirn nicht beleben können. Er beschloss, seine Denkarbeit vorerst einzustellen.
SVENJA
Er wünschte sich jetzt jemanden, mit dem er über den Fall hätte reden können, nicht Menschen vom Schlage Kopper-Carlsons, Enderts oder Holtgreves, und auch nicht Boll. Er wünschte sich jemanden, der in der Lage war zuzuhören, unvoreingenommen, nicht vom Fach, lebenserfahren, mit Menschenkenntnis, spontan, originell und ausgestattet mit spekulativer Fantasie. Am liebsten hätte er mit seiner Frau gesprochen. Warum eigentlich nicht? Was hinderte ihn daran, sie darum zu bitten? Jetzt sofort und ohne falsche Rücksichtnahme auf Amtsgeheimnisse und Verschwiegenheitspflichten. Wenn er ehrlich war, hatte er in seinen Gesprächen mit Svenja nie Rücksicht darauf genommen. Er griff zum Telefon und rief sie an.
»Jung, guten Tag.«
»Hallo, Svenja, ich bin’s. Ich habe ein Attentat auf dich vor.«
»Oh, mein Gott. Das ist ja aufregend. Worauf darf ich mich freuen?«
»Ich brauche dich.«
»Nein, Tomi«, unterbrach sie ihn lachend. »Das ist mir ja lange nicht passiert. Wo denn?«
»Können wir uns im Viva treffen?«
»Aber Tomi. Findest du das nicht etwas anstößig? Außerdem sind dort die Toiletten nicht gerade stimulierend.« Sie lachte.
»Svenja, lass das. Ich meine es ernst«, erwiderte Jung ungehalten.
»Was meinst du ernst, Tomas?«
»Ich möchte mit dir über meine Arbeit reden. Ich glaube, du bist die Einzige, die mir helfen kann. Ich lade dich zum Mittagessen ein.«
»Du enttäuschst mich, Tomi. Findest du ein Mittagessen im Viva nicht etwas knauserig? Ist dir meine Hilfe nur ein paar schlabberige Flautas wert? Ich weiß nicht, ob ich da mitmachen kann«, sagte sie bedauernd.
»Gut, dann schlage etwas vor, wo du mitmachen kannst.«
»Komm nach Hause. Ich werde eine Überraschung im Backofen haben, und die Toiletten bei uns sind auch hübscher, okay?«,
Weitere Kostenlose Bücher