Pendelverkehr: Ein Eifel-Krimi (German Edition)
flüstert er. »Ein Ort, an dem sie mal ganz besonders glücklich
war, wo das Wichtigste in ihrem Leben passiert ist?«
Weil sie mit ihrem Mann da Jupp gezeugt hat, übersetze ich seine Gedanken
für mich. Welch eine romantische Vorstellung! Hein liebt Jupp, ihm liegt der
Gedanke nahe, dass sich alles im Leben von Mutter Agnes um ihren Sohn gedreht
haben musste.
Ich kann nicht beurteilen, ob das so war. Ich bin keine Mutter, kann
mich also in eine solche – wie mir Mütter gern versichern – nicht mal
ansatzweise hineinversetzen. Aber ich frage mich, ob ein Mensch, der ein langes
Leben hinter sich hat, in dem es eigene Eltern und deren Tod, einen Ehemann und
dessen Tod, Krieg, bittere Not in der Nachkriegszeit, einen Westwall, Besatzer,
Kriegsheimkehrer, Überlebenskämpfe in mannigfaltiger Form, einen verschuldeten
und verlorenen Hof, zerbrochene Freundschaften, Nachbarschaftsfehden und auch ein Kind gegeben hat, am Ende ausschließlich an den
Ort denkt, an dem dieses Kind gezeugt wurde? Und deshalb durch die Kraft ihres
Willens dort das Zeitliche segnet?
Aber ist das jetzt nicht eigentlich ganz egal? Ist es nicht
wunderschön, dass wir vier – Jupp, Hein, Gudrun und ich, die das Schicksal vor
einem Jahr auf so seltsame Weise zusammengewürfelt hat – jetzt, in der Trauer
und der Verwunderung über Mutter Agnes’ Tod, wieder so nah beieinander sein
dürfen? Indem wir mit Jupp weinen, ihn halten und seiner Mutter gedenken?
Dabei begegne ich dem Taktilen, dem Haptischen, ansonsten eher
misstrauisch; ich mag keine Begrüßungsküsschen, verabscheue Antatschereien und
stelle meinen Leibespanzer gern jeglichen körperlichen Annäherungsversuchen
entgegen. Aber hier geschieht etwas, das Körperlichkeit übersteigt und für das
ich keine Begriffe habe. Durch Jupp sind wir jetzt alle miteinander enger
verbunden denn je. Wir sind Verbündete. Wir sind im wahren Sinn des Wortes zusammengerückt
und stützen einander. Es fehlt nur …
»… Marcel«, spricht Gudrun meinen Gedanken laut aus. »Er sollte
jetzt auch hier sein.«
Jupp räuspert sich und hebt einen Fuß leicht an. »Er könnte ein Bein
von mir holen«, sagt er. Und da erst merken wir, dass wir den mächtigen Mann im
Mittelpunkt mit unserer Nähe reichlich bedrücken, und lassen ihn alle gleichzeitig
los.
»Ich bitte um Entschuldigung«, meldet sich Hans-Peter zu Wort. Einen
Moment lang nehme ich die Floskel ernst, denke, er hat begriffen, was soeben
geschehen ist, dass er hier stört und schnell verschwinden und uns mit unserer
Trauer und unserer Viersamkeit gefälligst allein lassen sollte.
»Kein Mensch stirbt allein durch seinen eigenen Willen«, erklärt er,
und das reizt mich, ihm das nahe stehende Glas mit Coras Kräutern auf dem Kopf
zu zerschmettern. Vielleicht nicht nur der abfällige Unterton in seiner Stimme,
sondern auch die plötzlich wieder einsetzende Wahrnehmung des Chaos in meiner
Küche. Als wäre ich nach einem behaglich warmen Bad unvermittelt einer
Eiseskälte ausgesetzt worden. Als wäre das, was vor meinen Augen sichtbar ist,
wichtiger als das, was ich spüre, ersehne und mir Frieden bringt.
»Natürlich ist Ihre Mutter an einer Überdosis von irgendwelchen
Medikamenten ums Leben gekommen«, fährt Hans-Peter erbarmungslos fort, »ich
habe doch gesehen, wie erschrocken Sie zusammengefahren sind, als dieser verlotterte
belgische Polizist die Obduktion der alten Frau erwähnte. Da ging Ihnen der
Arsch auf Grundeis, das können Sie nicht bestreiten.«
Wir brauchen Zeit, um uns von allen Teilen dieser Bemerkung zu
erholen. Coras Kräuterglas ist viel zu harmlos. Ich peile den Feuerlöscher an
der Wand an. Hein kommt als Erster zu sich.
»Die Obduktion wird die Wahrheit ans Licht bringen«, sagt er
sachlich und setzt sich wieder an den Küchentisch. Jupp hat die Umklammerung
der Stuhllehne wieder aufgenommen und zerbricht mit seinen Fingern einen der
vertikalen Holzstreben.
Ich nehme wieder meinen Platz im Türrahmen ein. Wo bleibt die
Euskirchener Polizei? Ich darf das Läuten der Kuhglocke vor dem Eingang
keinesfalls verpassen. Und es wird Zeit, Hans-Peter mitzuteilen, dass er hier
nichts zu suchen hat.
»Wie bist du eigentlich auf die abenteuerliche Idee gekommen,
ungebeten hier zu übernachten, in meinem Restaurant?«,
setze ich an und kann gerade noch verhindern, mit meiner Kellnerin auszuspucken.
»Gar nicht abenteuerlich, nur vernünftig«, erwidert er. »Schließlich
werde ich hier bestimmt am ehesten was über Gaby
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