Pendelverkehr: Ein Eifel-Krimi (German Edition)
Sich da an der Stille der Moorlandschaft gefreut und
einfach keine Lust gehabt, zu großmäuligem Mann und lästigem Enkel zurückzukehren.
Vielleicht sitzt sie gerade in einem der abgelegenen belgischen Gasthöfe,
schaufelt Waffeln oder Pommes in sich hinein und freut sich diebisch, dem
Gemahl die Urlaubsstimmung verdorben zu haben. So wie dieser mit seinen
ungebetenen juristischen Belehrungen jetzt Jupp die Trauerstimmung nimmt.
»Der Nachweis, dass die bettlägerige demente alte Frau Medikamente
selbst gehortet und sich ohne Hilfe zugeführt hat, dürfte schwer zu erbringen
sein.«
Nach diesem Satz verwerfe ich den Gedanken, meinen
Informationsvorsprung aufzugeben und Hans-Peter auf das Herannahen der
Staatsgewalt vorzubereiten.
Wie doch drei Semester Jura und jahrzehntelange Berliner Politik
einen Menschen deformieren können! Aber wenn ich es recht bedenke, war
Herzlosigkeit schon seit jeher Hans-Peters Spezialität. Das wird Gudrun, die
ihn nach der gemeinsamen Nacht – ich hatte nie eine ganze Nacht mit ihm
verbracht! – noch verzückter anhimmelt, auch noch zu spüren bekommen.
»Meine Mutter hat keine Medikamente gehortet oder eingeholt«,
murmelt Jupp, »und ich habe ihr nichts zugeführt. Sie nur genau dahin gebracht,
wo sie hinwollte. Sie war so klar. Wie früher. Hat sogar ihr altes Gebiss
wieder eingesetzt. Ich dachte, die frische Luft wird ihr guttun; vielleicht
wird sie da sogar wieder gesund. Oder …« Er bricht ab und beginnt zu weinen.
Ich gehe zu ihm und schlinge von hinten meine Arme um ihn. Auch ich
muss weinen.
»Warum auf dem Pferd in den Wald?«, flüstere ich ihm schluchzend ins
Ohr. »Das muss doch furchtbar anstrengend für sie gewesen sein. Und für dich.«
»Sie hatte ein Ziel«, erwidert Jupp laut. »Und das hat sie ganz
fröhlich gemacht, fast so, als könnte sie wieder gesund werden. Ihr kennt sie
doch in ihrem Bett in der Dachstube. Aber sie war gestern früh völlig anders,
ganz da und irgendwie voller Vorfreude. Auf eine ganz bestimmte Stelle im Wald,
nahe dem Bunker. Da konnte ich doch nicht Nein sagen. Sie konnte nicht mehr so
gut sehen, und es war gar nicht leicht, genau den richtigen Platz zu finden,
für sie hinzulegen.« In seltsamem Singsang fährt er fort: »Nein, nicht hier,
mehr links, da hinten, das sieht so aus, nein, da auch nicht, habe mich geirrt,
sie sind doch noch da, ich muss dahin, wir reiten weiter, mehr nach dort …«
Seine Stimme wird wieder normal: »Und dann plötzlich sagt sie: Ja, das ist
richtig, da sind sie, ich sehe sie, wie schön sie aussehen, halt an. Bind Jumbo
hier fest, und trag mich da drüben hin, da unter den Baum. Ich habe ihr dann
alles so gemacht, wie sie wollte.«
»Sie?«, frage ich. »Wen meinte sie damit? Wen hat sie gesehen?«
»Elfen«, versetzt Hans-Peter, »meine Tochter hat die früher auch
immer im Wald gesehen. Alte Leute werden wieder zu Kindern, das erlebt man doch
oft genug.«
»Meine Mutter war kein Kind. Und sie glaubte an keine Elfen. Nur an
Gott, den Allmächtigen und sonst an niemanden«, gibt Jupp unter Tränen schroff
zurück.
»Und doch haben Sie ihr das Bett gemacht, weil Sie wussten, dass sie
dort sterben würde«, sagt Hans-Peter.
Jupp blickt zu Boden.
»Ich wusste es nicht«, flüstert er, »das habe ich der Polizei auch
gesagt. Aber ich habe schon geglaubt, dass sie dahin wollte für zu sterben. Das
war doch ihr Recht. Nach so vielen Jahren ohne richtiges Leben. Endlich hat sie
gesagt, was sie will. Wohin sie will. Da konnte ich ihr doch keinen Streit
machen.«
»Du meinst, dass sie einfach durch ihren Willen gestorben ist?«, frage ich ungläubig.
Jupp lässt die Stuhllehne los und hebt die Hände.
»Ja«, sagt er tonlos.
Gudrun tritt auf ihn zu, kniet vor ihm nieder und reicht mit einer
seltsam archaisch anmutenden Geste nach einer seiner riesigen Pranken und küsst
sie.
»Die Ahnen«, flüstert sie. »Sie hat die Ahnen gesehen, unser aller
Ahnen. Sie wusste, wo sie sind. Das war ihr Ziel. Das wird es sein.«
Ich blicke zu Hans-Peter, der an seiner Pfeife zieht und immerhin
sensibel genug ist, jetzt nicht die juristischen Rechte längst Verstorbener zu
bemühen.
Auch Hein stehen Tränen in den Augen. »Sie hat sich ihr Sterben
selbst ausgesucht«, sagt er, »das ist doch eine Gnade, nicht?« Er holt tief
Luft, ehe er Jupps Worte wiederholt: »Eine ganz besondere Stelle … Was da wohl
war?« Er greift nach der Hand von Jupp, die Gudrun nicht hält. »Vielleicht eine
Erinnerung?«,
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