Pendergast 02 - Attic - Gefahr aus der Tiefe
Karriere aufgegeben. Niemand hatte seither mehr etwas von ihm gehört.
Niemand außer Margo, der Greg vor ein paar Monaten eine Mitteilung auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Damals hatte er gesagt, daß er ihre Hilfe brauche, und sie hatte bei seinem zweiten Anruf nicht einmal den Hörer abgehoben.
Jetzt dämmerte Margo langsam, weshalb Greg seinerzeit das Museum verlassen hatte: Er hatte wohl damals schon unter einer schrecklichen Krankheit gelitten, die seine Knochen deformiert und ihn langsam in jenes entstellte Skelett verwandelt hatte, das jetzt hinter ihr auf der Rollbahre lag. Zweifelsohne hatte er sich seiner Veränderung geschämt und nach einer Behandlung gesucht, aber keine gefunden. Weil er nicht mehr hatte arbeiten können, war er wohl schließlich obdachlos geworden und war irgendwann einmal in den U-Bahn-Schächten gelandet. Und dort war sein Leben, das zunächst so vielversprechend verlaufen war, von einem grausamen Mörder beendet worden. Von einem Sadisten, der ihn enthauptet und dann noch an seinen Knochen herumgenagt hatte.
Margo starrte aus dem Fenster und schauderte trotz der warmen Sonnenstrahlen. Gregs Ende mußte grauenvoll gewesen sein. Vielleicht hätte sie ihm helfen können, wenn sie nicht so sehr versucht hätte, ihre eigene Vergangenheit zu vergessen.
Ihr Sport und ihre Arbeit waren ihr wichtiger gewesen als Menschen wie Greg Kawakita. Sie hatte ihn einfach links liegengelassen.
»Dr. Frock?« rief sie, als sie das Knarzen des Rollstuhls hinter sich hörte.
»Dr. Frock, ich ...« Margo konnte nicht weitersprechen.
Dann spürte sie, wie sie eine leicht zitternde Hand ganz sanft am Ellenbogen berührte. »Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken«, sagte Frock. »Nur einen Augenblick, bitte. Wie kann das alles nur so gekommen sein? Der Gedanke, daß dieser traurige Haufen Gebeine, den wir untersucht, vermessen und auseinandergenommen haben, einmal Gregory gewesen sein soll ...«
Seine Stimme brach, und seine von einem durchs Fenster einfallenden Sonnenstrahl beleuchtete Hand glitt langsam von Margos Ellenbogen.
Margo blieb unbewegt stehen, schloß die Augen und zwang sich, so ruhig wie möglich zu atmen. Als sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, drehte sie sich um und ging hinein ins Labor. Um das Skelett auf der Rollbahre machte sie einen weiten Bogen – sie wußte nicht, ob sie es jemals in ihrem Leben wieder würde ansehen können – und steuerte auf Frock zu, der mit trockenen Augen ins Leere starrte.
»Wir sollten jetzt besser Lieutenant D'Agosta anrufen«, schlug sie vor.
Frock sagte lange nichts, dann signalisierte er ihr mit einem stummen Nicken sein Einverständnis.
TEIL ZWEI
CUI CI SONO DEI MOSTRI
Aus naheliegenden Gründen gibt es keine zuverlässigen Zahlen über die Anzahl der im Untergrund von Manhattan lebenden Obdachlosen. Allerdings geht aus der Rushing-Bunten-Studie hervor, daß im Jahr 1994 allein zweitausendsiebenhundertfünfzig Personen in dem relativ kleinen Gebiet zwischen der Pennsylvania Station im Südwesten und der Grand Central Station im Nordosten lebten.
Im Winter soll dort die Zahl der Obdachlosen sogar auf viertausendfünfhundert ansteigen. Die Autorin dieser Zeilen kann aus eigener Anschauung bestätigen, daß diese Zahlen eher zu niedrig als zu hoch gegriffen erscheinen.
Natürlich wird im Untergrund von New York kein Geburts- und Sterberegister geführt, aber zumindest die Zahl der Todesfälle dürfte angesichts der Tatsache, daß sich dort zahlreiche Drogensüchtige, Kriminelle, Strafentlassene und psychisch Kranke aufhalten, überdurchschnittlich hoch sein. Menschen, die sich von der Oberfläche in die dunkle Welt halb vergessener Tunnels zurückziehen, geben dafür ganz unterschiedliche Gründe an. Hauptsachlich aber suchen sie Sicherheit und Zuflucht vor einer Gesellschaft, der sie sich in hohem Maße entfremdet haben. Eine trügerische Zuflucht, denn rein statistisch betragt die durchschnittliche Lebensdauer eines Menschen im Untergrund von New York nicht mehr als zweiundzwanzig Monate.
Aus: L. Hayward, Soziale Hierarchien im
Untergrund von Manhattan (erscheint in Kürze)
23
D’Agosta ging mit großen Schritten die West 63rd Street entlang und hoffte, daß ihn niemand erkannte. Jetzt, wo er sich dem Hudson näherte, waren die größeren Wohnblöcke längst gepflegten Klinkerbauten gewichen, an denen er mit gesenktem Blick vorbeieilte. Ein paar Schritte vor ihm schlurfte Special Agent Pendergast,
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