Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
Hand Ludovico Aristos
Orlando furioso e opere minori
. »Guten Abend, Agent«, begrüßte er Pendergast.
»Wie geht es Ihnen?«
»Danke, Frances«, erwiderte Pendergast, »recht gut.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Buch. »Wie gefällt Ihnen Aristos Werk?«
»Sehr gut. Besten Dank für die Empfehlung.«
»Ich hatte Ihnen, glaube ich, zu der Übersetzung von Bacon geraten.«
»Da müsste ich mich an Nesmith wenden, der hat eine auf Mikrofiche. Die gedruckten Ausgaben sind alle ausgeliehen.«
»Ich werde Ihnen eine zuschicken«, versprach Pendergast, schon halb auf dem Weg zur Eingangshalle mit der breiten, geschwungenen Marmortreppe. »Erinnern Sie mich notfalls daran!«
Der weiche Teppichbelag verschluckte jeden Schritt, als Pendergast die Treppe hinaufstieg und zielstrebig auf den Raum dreihundertfünfzehn zusteuerte, den großen Lesesaal. Sanftes gelbes Licht ergoss sich über die dicht aneinander gereihten schweren Holztische. Tagsüber meldeten die Besucher hier, sobald sie fündig geworden waren, ihren speziellen Buchwunsch an, woraufhin ein Mitarbeiter der Bibliothek die Anforderung per hydraulischem Lastenaufzug an die Ausgabestelle im Kellergeschoss weiterleitete, die das gewünschte Buch in erstaunlich kurzer Zeit nach oben lieferte. Jetzt herrschte hier gähnende Leere, die lautlose Stille wirkte fast bedrückend.
Pendergast, der sich in der Bibliothek gut auskannte, fand mit schlafwandlerischer Sicherheit seinen Weg durch ungezählte Türen und über verwinkelte, halb dunkle Flure, bis er zu guter Letzt vor der steilen, schmalen Treppe stand, über die er den versteckt gelegenen, Besuchern gewöhnlich nicht zugänglichen Teil der Bibliothek erreichte, in dem fleißige, kundige Hände all jene Arbeiten verrichteten, ohne die dieNew York Library sich nie und nimmer ihren guten Ruf erworben – oder zumindest nicht bewahrt hätte.
Pendergast blieb stehen und lauschte. Aha, Wren war noch da, er hörte das scharfe Schnipp-schnipp seiner Schere; er musste nur noch diesem Geräusch und dem muffigen Geruch nach abgestandener Luft folgen. Und als er um die letzte Ecke gebogen war, sah er den Gesuchten leibhaftig vor sich an einem Tisch sitzen, mit dem Rücken zu ihm: eine so auffallende Erscheinung, dass man meinen konnte, sie müsse der Phantasie eines Karikaturisten entsprungen sein, mit schulterlangem, dichtem schneeweißen Haar, tief in ihre Arbeit versunken. Pendergast klopfte leise an der offenen Metalltür an. »Es ist mir, als hörte ich ein Klopfen«, rezitierte der Weißhaarige mit hoher, aber unverkennbar männlicher Stimme, ohne aufzublicken oder sich gar umzudrehen.
Schnipp-schnipp. Pendergast klopfte noch einmal.
»Gleich, gleich«, knurrte der Mann ungehalten. Schnipp-schnipp, schnipp-schnipp.
Pendergast klopfte zum dritten Mal an, diesmal entschieden lauter.
Der Mann straffte die Schultern, richtete sich seufzend auf und bemühte wiederum den reichen Zitatenschatz, den er im Laufe eines langen Arbeitslebens angesammelt hatte: »Wollt Ihr gar König Duncan vom Tode erwecken? Ich wünschte, Ihr könntet’s!« Und damit legte er die Schere und das mit einem neuen Einband versehene Buch weg und drehte sich um.
»Hol mich der Daus, wenn das nicht der Special Agent Pendergast ist«, rief er mit schriller Stimme. »Der speziellste aller speziellen Agents unter der Sonne!«
Pendergast neigte den Kopf. »Wie geht es Ihnen, Wren?«
»Danke ergebenst für die freundliche Nachfrage. Gut geht’s mir, sehr gut.« Dann deutete er mit der knochigen Hand auf den Stapel Bücher, die alle auf einen neuen Einband warteten. »Wenn ich bloß mehr Zeit für all meine armen, malträtierten Kinder hätte!«
Die öffentliche Bibliothek von New York litt wahrlich nicht unter einem Mangel an Sonderlingen, aber der kauzigste aller Kauze war zweifellos Wren. Im Grunde schien niemand etwas Genaues über ihn zu wissen, nicht einmal, ob Wren der Vor- oder Nachname war und ob er überhaupt so hieß. Niemand vermochte sich zu erinnern, woher er gekommen war und ob er einen Anstellungsvertrag mit der Bibliothek abgeschlossen hatte. Niemand hatte eine Ahnung, wann und wo er seine Mahlzeiten einnahm; Spötter kolportierten gern das Gerücht, er ernähre sich von Papierbrei und Klebstoff. Das Einzige, was alle genau zu wissen glaubten, war, dass er die Bibliothek nie verließ, jedenfalls hatte ihn noch nie jemand dabei beobachtet.
Wrens gelbliche Augen fixierten den Besucher mit einem scharfen Blick, der
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