Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
wie aufs Stichwort brachen alle Dämme, und ungezählte Stimmen schrien durcheinander. Aber Custer dachte an die bevorstehende Wahl und ließ sich nicht erweichen. Sollte Montefiori die Lorbeeren ruhig einheimsen, er würde seine Ernte später einfahren.
9
Nora schlitterte wie auf einer Rutschbahn ins Bewusstsein zurück. Ihre erste Wahrnehmung war der Schmerz, ihrem Gefühl nach musste sie sich die Hüfte aufgeschürft haben. Leise stöhnend schluckte sie gegen die Trockenheit in ihrem Hals an, schlug die Augen auf und versuchte blinzelnd, sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen. Aber sie sah nichts. Es dauerte zwei, drei Sekunden, bis sie begriff, dass sie von rabenschwarzer Nacht umgeben war. Über ihr Gesicht rann Blut, aber als sie nach der Wunde tasten wollte, gehorchten ihr die Arme nicht. Erst beim zweiten Versuch wurde ihr klar, dass sie an den Hand- und Fußgelenken angekettet war.
Ihre Verwirrung steigerte sich zur Panik. Sie kam sich vor wie jemand, der einen Traum abschütteln will, aber einfach nicht aufwachen kann. Was war geschehen? Wo war sie?
Aus dem Dunkel hörte sie eine schwache, tiefe Stimme. »Dr. Kelly?«
Dass sie ihren Namen hörte, erlöste sie von dem Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein. Doch mit der unverhofften Rückkehr in die reale Welt wurden augenblicklich auch die Ängste wieder wach.
»Ich bin es, Pendergast«, hörte sie die tiefe Stimme neben sich raunen. »Geht es Ihnen gut?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie zurück. »Ich denke, ich bin mit ein paar blauen Flecken davongekommen. Und Sie?«
»Nun, es geht so.«
»Was ist eigentlich passiert?«
Pendergast zögerte. »Ich mache mir ernsthafte Vorwürfe, dass es so gekommen ist«, antwortete er schließlich. »Ich hätte damit rechnen müssen, dass er uns eine Falle stellt. Wie brutal von ihm, uns mit Sergeant O’Shaugnessy zu ködern. Etwas Unmenschlicheres konnte ihm gar nicht einfallen.«
»Ist O’Shaugnessy …?«
»Er lag im Sterben, als wir ihn gefunden haben. Er kann den Absturz nicht überlebt haben.«
»O Gott, wie furchtbar! Wie entsetzlich!« Ein Schluchzen schüttelte sie.
»Ja. Er war ein guter Kerl. Ein loyaler Partner. Mir fehlen die Worte, meinen Schmerz auszudrücken.«
Langes Schweigen. Und je länger die quälende Stille anhielt, umso mehr spürte Nora, dass die eigenen Ängste letztendlich stärker sind als selbst die aufrichtigste Trauer um lieb gewordene Weggefährten. Auf einmal war es, als habe der Gedanke, dass ihnen vermutlich dasselbe Geschick bevorstand und dass es Smithback womöglich schon widerfahren war, alle anderen Empfindungen verdrängt.
Pendergasts Stimme hörte sich beängstigend schwach und brüchig an, als er schließlich sagte: »Mein unverzeihlicher Fehler war es, bei diesem Fall von Anfang an nicht den nötigen inneren Abstand zu wahren. Ich konnte es nicht, es war zu viel Persönliches im Spiel. Was ich auch unternommen habe, mein Handeln war immer überschattet von …«
Er verstummte mitten im Satz. Sekunden später hörte Nora ein Geräusch, und während sie noch rätselte, woher das merkwürdige metallische Scharren kam, riss auf einmal – keine zwei Armlängen von ihr entfernt – ein rechteckiger Lichtschlitz das Dunkel auf, sodass sie schemenhaft ein paar Umrisse ausmachen und sich plötzlich auch den Modergeruch erklären konnte: Sie waren in einem Keller gefangen.
Hinter dem Lichtschlitz tauchten zwei feucht schimmernde Lippen auf, und eine raue, von einem starken Akzent geprägte Stimme sagte: »Verlieren Sie bitte nicht die Beherrschung. Das alles wird bald ausgestanden sein. Es ist sinnlos, an den Ketten zu zerren.« Nach kurzem Zögern fuhr die Stimme fort: »Sehen Sie es mir nach, wenn ich meiner Rolle als Gastgeber im Augenblick nicht in der gebührenden Weise nachkommen kann. Ich muss mich zuerst einer unaufschiebbaren Aufgabe widmen, aber Sie können sicher sein: Sobaldich mich der Aufgabe entledigt habe, lasse ich Ihnen meine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen.« Der Lichtschlitz klappte zu.
Ein, zwei Minuten lang fühlte sich Nora wie gelähmt, sie wagte vor Angst nicht einmal zu atmen. Es war, als habe ihr Verstand abgeschaltet. Als sie sich wieder gefangen hatte, hauchte sie flüsternd ins Dunkel: »Agent Pendergast?«
Keine Antwort. Stattdessen vernahm sie irgendwo in der Nähe einen dumpfen Schrei. Er hörte sich erstickt an, wie von einem Knebel gedämpft, aber es war ohne jeden Zweifel der Schrei eines gequälten Menschen. Nora
Weitere Kostenlose Bücher