Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
ein Kunstwerk als die Aneinanderreihung von angelernten Handgriffen, dachte er bei sich. Sie erfordert Geduld, Kreativität, Intuition und eine ruhige Hand. Intellekt und Urteilsvermögen sind dabei kaum gefragt.
Er wäre, wenn er es gewollt hätte, sicher auch ein guter Künstler geworden. Nun, vielleicht war ihm irgendwann danach, sich auch auf diesem Feld zu bewähren. Er musste wieder an seine Studienzeit denken. Nach Abschluss der Anatomie hatte er mit der Idee gespielt, sich der Pathologie zuzuwenden. Aber irgendetwas in ihm hatte sich dagegen gesträubt, es war zu nahe an der Autopsie angesiedelt. Und so war er schließlich auf die Chirurgie verfallen.
Er ließ den Blick über den Rollwagen gleiten, um zu überprüfen,ob alles bereit lag, was er für die Entnahme der bloßgelegten Teile brauchte: Knochenmeißel, Diamantbohrer … ja, alles da, es fehlte nichts. Dann ein kurzer Blick auf die Monitore. Obwohl seine Ressource bedauerlicherweise das Bewusstsein verloren hatte, waren ihre Lebenszeichen noch erstaunlich vital. Erneute Eingriffe durfte er natürlich nicht vornehmen, aber bei der Extraktion und Präparation der benötigten Teile waren keine Komplikationen zu erwarten.
So weit war also alles nach Plan verlaufen. Pendergast, der vermeintlich große Detektiv, war – wie alle anderen vor ihm – ahnungslos in eine der vorbereiteten Fallen getappt. Es war verblüffend einfach gewesen, ihn zur Strecke zu bringen. Bei den anderen hatte er das ohnehin erwartet. Die hatte er kurzerhand entsorgt und die Überreste beseitigt. Es war geradezu lachhaft, wie pathetisch die Umwelt auf ihr Verschwinden reagiert hatte. Die grenzenlose Dummheit der Polizei, das schwachsinnige Verhalten der Museumsleitung … wirklich, sie hatten viel zu seiner Erheiterung beigetragen. In gewisser Weise offenbarte sich im Ablauf der Dinge eine höhere Gerechtigkeit. Nur schade, dass er der Einzige war, der das erkennen konnte.
Und nun hatte er sein Ziel erreicht – zumindest beinahe. Dreimal musste er sein Können noch unter Beweis stellen, bei Smithback, Pendergast und Nora Kelly, dann konnte er mit Fug und Recht behaupten, am Ziel zu sein. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass es gerade diese drei sein sollten, die ihm zu seinem Triumph verhalfen.
Als er sich kurz über den Rollwagen beugte, glaubte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrzunehmen. Er fuhr herum. Pendergast, der FBI-Agent. Er stand, lässig an die Wand gelehnt, unter dem Torbogen, der in den Operationsraum führte.
Der Mann, den man den »Chirurgen« nannte, richtete sich auf und versuchte angestrengt, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die unwillkommene Überraschung aus demKonzept brachte. Er sah auf den ersten Blick, dass Pendergast mit leeren Händen gekommen war. Was für ein boden-loser Leichtsinn, ihm unbewaffnet entgegenzutreten! Aber woher hätte er auch eine Waffe nehmen sollen? Den Colt hatte ihm der »Chirurg« abgenommen, er lag in Reichweite in der Besteckschale, er musste nur blitzschnell zugreifen, ihn mit dem Daumen entsichern und auf Pendergast richten.
Pendergast lehnte weiter lässig an der Wand. Auch der »Chirurg« versuchte, unerschütterliche Ruhe auszustrahlen, aber als ihre Blicke sich für Bruchteile einer Sekunde trafen, sah der Agent das unstete Flackern in den Augen seines Kontrahenten.
»Sie waren es also, der Enoch Leng gefoltert und getötet hat. Ich habe mich schon gefragt, wer wohl in seine Rolle geschlüpft sein könnte. Ich muss zugeben, dass ich überrascht bin. Und ich bin kein Freund von Überraschungen.«
Der »Chirurg« richtete den Colt auf ihn.
»Keine Sorge, ich bin unbewaffnet. Sie haben mir ja meine Waffe weggenommen.«
Der Finger krümmte sich um den Abzug. Aber der »Chirurg« konnte sich nicht dazu durchringen abzudrücken, noch nicht. Pendergast war ein gefährlicher Gegner, es wäre zweifellos das Beste gewesen, kurzen Prozess zu machen. Nur, wenn er abdrückte, lief er Gefahr, seine menschliche Ressource unbrauchbar zu machen. Und er musste zuvor unbedingt herausfinden, wie es dem Agent gelungen war, aus seinem Verlies zu entkommen. Außerdem gab es noch diese junge Frau, Nora Kelly …
»Aber allmählich erkenne ich eine Art Logik darin«, fuhr der Agent fort. »Ja, es fügt sich eins zum anderen. Sie errichteten an der Catherine Street ein Hochhaus. Es war kein Zufall, dass Sie bei dieser Gelegenheit die sterblichen Überreste der jungen Opfer entdeckt haben, o nein, sie haben gezielt
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