Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
die Gestalt, die auf sie zuwankte, ein Mensch aus Fleisch und Blut sein musste – also entweder Pendergast oder der »Chirurg«.
Dem Gefühl nach tippte sie auf den »Chirurgen«. Er musste offenbar im Kampf mit Pendergast schwere Verletzungendavongetragen haben. Oder waren die rätselhaften Laute erste Anzeichen eines beginnenden Wahnsinns?
Anscheinend ahnte er nicht, dass sie unter dem Tisch kauerte. Was ihr immerhin einen kleinen Vorteil verschaffte. Sie vermochte sich mit dem Skalpell auf ihn zu stürzen und ihn zu töten, bevor er ihr etwas antun konnte. Vorausgesetzt, sie brachte die nötige Kaltblütigkeit auf.
Das Schlurfen hatte aufgehört. Etwa zwanzig Sekunden verstrichen, aber die kamen ihr wie eine Ewigkeit vor. Und dann waren die unsteten, stolpernden Schritte wieder da. Sie konnte sogar den Atem des »Chirurgen« hören, er musste ganz in ihrer Nähe sein. Nur, es waren keine normalen Atemzüge, eher ein hechelndes Schlürfen, wie wenn jemand Luft durch einen nassen Schlauch einsaugt.
Und urplötzlich hallte das Gewölbe von einem wahren Höllenlärm wider. Der Mann hatte im Dunklen eins der Laborgeräte vom Tisch gerissen, es war mit ihm zu Boden gefallen und in tausend Splitter zerplatzt.
Bleib, wo du bist!, hämmerte Nora sich ein. Bleib in deinem Versteck! Wenn es der »Chirurg« war, musste Pendergast ihm dicht auf den Fersen sein. Aber wo blieb er so lange? Warum verfolgte er den Mann nicht?
Die Geräusche schienen jetzt nur noch höchstens zehn Meter entfernt zu sein. Sie hörte ein Scharren, das Knirschen von Glasscherben – der Mann versuchte offensichtlich, wieder auf die Beine zu kommen. Sie hörte seine schlurfenden Schritte, unsäglich langsam und schleppend. Dann setzten die schlürfenden Atemzüge wieder ein, wie durch einen Schnorchel. Nora hatte noch nie einen so enervierenden Laut gehört.
Drei Meter. Ein Adrenalinstoß raste ihr durchs Blut, sie fasste das Skalpell fester. Ihr Plan stand fest: die Stablampe anschalten, den Mann anspringen und ihm, das Überraschungsmoment nutzend, das Skalpell in den Leib rammen.
Wieder das laute Keuchen. Die Schritte wurden schwerer, einem spastischen Stampfen immer ähnlicher. Der Mann warjetzt fast auf einer Höhe mit ihr. Nora spannte die Muskeln an und schob den Zeigefinger hinter den Schalter der Stablampe. Sie war zu allem entschlossen. Der jähe Lichtstrahl würde ihn blenden, und ehe er wusste, wie ihm geschah, würde sie ihn mit dem Skalpell anspringen. Einen Schritt gab sie ihm noch, dann blitzte der grelle Lichtstrahl auf, ihr Arm zuckte hoch …
Doch statt ihn anzuspringen, stand sie – das Skalpell zum Angriff gereckt – wie versteinert da. Und dann stieß sie einen Schrei aus.
13
Custer stand auf einer der oberen Treppenstufen vor dem Museum und blickte mit unsäglicher Genugtuung auf das Knäuel dicht gedrängter Gestalten, zu dem die Pressevertreter verschmolzen waren. Links von ihm stand, soeben mit einer Schar von Begleitern eingetroffen, der Bürgermeister von New York City, rechts Commissioner Rocker, hinter Custer hatten zwei ranghohe Detectives und sein allzeit willfähriger Schatten Noyes Posten bezogen – eine Ansammlung von Prominenz, wie selbst altgediente Reporter sie nicht jeden Tag zu Gesicht bekamen. Der Andrang war so groß geworden, dass sich die Polizei genötigt sah, die Central Park West für den Verkehr zu sperren. Über ihnen kreisten, die Kameras wie Riesenfinger ins Freie gereckt, Pressehubschrauber, deren Scheinwerfer die Szene mit gleißendem Licht ausleuchteten. Die Festnahme des »Chirurgen« alias Roger C. Brisbane III., gestern Abend noch allseits verehrter Vizepräsident und hoch angesehener Rechtsberater des Museums, war ein gefundenes Fressen für die Pressegeier. Der gefürchtete Nachahmungstäter, der ganz New York seit Wochen in Angst und Schrecken versetzt hatte, war nicht irgendein geistig verwirrter Obdachloser gewesen, der in einem Pappkarton im CentralPark hauste, nein, er hatte zur gesellschaftlichen Oberschicht Manhattans gehört, ein Mann, der mit seinem verbindlichen Lächeln ungezählte Mäzene für das New York Museum gewonnen hatte. Und jetzt stand diese gepflegte, aus den Klatschspalten von
Avenue
und
Vanity Fair
bestens bekannte, immer wie aus dem Ei gepellte Erscheinung als entlarvter Massenmörder am Pranger. Und er, Custer, hatte ihn der Meute zum Fraß vorgeworfen.
Der Bürgermeister plauderte in sonorem, angemessen ernstem Ton mit dem Commissioner und dem
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