Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
Morgen, Miss Kraus«, begrüßte er sie aufgeräumt.
Winifred geleitete ihn zum Frühstückstisch und begann aufzutragen. Sie war so aufgeregt, dass sie fast außer Atem geriet. Schon als Kind hatte es sie fasziniert, Gäste zu bewirten. Und damals waren es viele Gäste gewesen, sie kamen aus dem ganzen Land, mitunter standen ihre großen Autos dicht gedrängtauf dem Parkplatz. Das gedämpfte Geplauder beim Frühstück schuf eine ganz eigene Atmosphäre. Und wenn Winifred, wie es ab und zu vorkam, die Besucher allein durch die Höhlen führen durfte, war jedes staunende Raunen und jeder bewundernde Ausruf Musik in ihren Ohren. Sie hatte ihre Sache gut gemacht, sogar ihr Vater hatte nicht mit lobenden Worten gespart. Und obwohl seit dem Bau der Interstate alles anders geworden war, bereitete ihr jede Höhlenführung immer noch großes Vergnügen. Selbst wenn es – wie heute – nur darum ging, einen einzigen Besucher durch die unterirdische Wunderwelt zu führen.
Nachdem Pendergast sein Frühstück beendet hatte, ließ sie ihn noch eine Weile mit dem
Cry County Courier
allein und ging schon mal voraus. Der Gang zur Kaverne war ihr zur festen täglichen Gewohnheit geworden, denn dort gab es auch ohne Besucher immer etwas zu tun, und sei’s nur, Glühbirnen auszuwechseln oder angewehtes Laub wegzufegen. Auch jetzt überzeugte sie sich davon, dass alles in Ordnung war, bevor sie die Andenkenbude öffnete und unter dem Schutzdach auf Pendergast wartete.
Kurz vor zehn tauchte er bei ihr auf. Er bezahlte brav seine zwei Dollar für die Eintrittskarte, und sie führte ihn auf dem zementierten Fußweg dorthin, wo die Erde sich auftat. Sie schloss die schwere Vorhängekette auf und öffnete das Eisentor. Wiederum kündigte sich ein heißer Tag an, da war das kühle Lüftchen, das aus dem Höhleneingang drang, eine wahre Wohltat. Sie nahm den Platz ein, an dem sie bei Führungen immer stand, und begann mit den einführenden Worten: einem einstudierten Text, den sie jedes Mal so aufsagte, wie sie ihn vor einem halben Jahrhundert von ihrem Vater übernommen hatte.
»Kraus’ Kavernen«, begann sie, »wurden von meinem Großvater Hiram Kraus entdeckt. Er kam 1888 aus der Gegend nördlich von New York nach Kansas, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Er war einer der frühen Pioniere in derspäteren Cry County und erwarb einhundertundsechzig Acre Grund und Boden, direkt am Medicine Creek.«
An der Stelle machte sie wie immer eine kurze Pause, und als sie sah, wie gebannt der Agent an ihren Lippen hing, huschte glückseliges Erröten über ihre Wangen.
»Am fünften Juni 1901 stieß er bei der Suche nach einer verloren gegangenen jungen Kuh auf den Höhleneingang – eher zufällig, denn er war seinerzeit fast gänzlich von Büschen und Gestrüpp zugewuchert und kaum auszumachen. Er kam mit einer Laterne und einer Axt wieder, stieg in die Höhlen ein und begann so mit ihrer Erkundung.«
»Hat er die Färse gefunden?«, wollte Pendergast wissen.
Winifred starrte ihn verdutzt an. Bisher hatte sie noch nie jemand gefragt, was aus der Kuh geworden war.
»Ja, er hat sie gefunden. Sie war in den ›Abgrund des Bösen‹ gestürzt und dort verendet.«
Die Frage schien sie ein bisschen aus dem Konzept zu bringen, aber sie fing sich schnell wieder. »Tja – das fiel etwa in die Zeit, als die Motorfahrzeuge in Amerika populär wurden. Auch auf der Cry Road tauchten die Vehikel auf, hauptsächlich Familien auf dem Weg nach Kalifornien. Hiram Kraus brauchte ein Jahr, um die hölzernen Laufstege und Brücken zu bauen, über die wir gleich gehen werden, und als das geschafft war, konnte er die Kavernen für das Publikum öffnen. Der Eintritt kostete damals einen Nickel.« Wieder eine kleine Pause, weil an der Stelle gewöhnlich leise gekichert wurde. »Die Führungen wurden auf Anhieb zur Attraktion. Später kam die Andenkenbude dazu, in der es – heute wie damals – schön geformte Steine, Mineralien, Versteinerungen und hübsche Handarbeiten zu kaufen gibt, Letztere zugunsten unserer Kirchengemeinde. Höhlenbesucher erhalten übrigens auf alle Artikel zehn Prozent Rabatt.« Ein aufmunternder Blick. »Und nun werden wir, wenn Sie mir bitte folgen wollen, mit dem Abstieg in die Höhlen beginnen.«
Sie stiegen auf einer ausgetretenen, von nackten Glühbirnenausgeleuchteten Holztreppe etwa hundert Meter tief ins Innere der Erde ab, dann mündeten die breiten Stufen in einen schmaleren Laufsteg, der mit einem scharfen Knick in
Weitere Kostenlose Bücher