Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
sich, gekrönt von einer Rauchwolke, steil in den Himmel. Zu seiner Rechten erstreckte sich der dunkle Rücken der Küste Kalabriens. Vor ihm lag sein Ziel, weit, weit auf dem Meer.
Das große Auge der untergehenden Sonne war soeben hinter dem Kap verschwunden, warf lange Schatten aufs Wasser und tauchte die alte Burg in goldenes Licht. Die Fähre fuhr gen Norden, auf die Äolischen Inseln zu, die abgelegensten aller Mittelmeerinseln – den Wohnort der Vier Winde, wie man im Altertum glaubte.
Bald würde er
zu Hause
sein.
Zu Hause.
Er wälzte das bittersüße Wort in seinen Gedanken und fragte sich, was es eigentlich bedeutete. Ein Zufluchtsort; ein Ort des Rückzugs, des Friedens. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, suchte Schutz im Lee der Deckkabine und zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte tief. Seit er vor einem Jahr das letzte Mal nach Hause zurückgekehrt war, hatte er nicht mehr geraucht; aber das Nikotin half ihm, sein erregtes Gemüt zu beruhigen.
Er dachte zurück an die zwei Tage der hektischen Reisetätigkeit, die hinter ihm lagen: Florenz, Mailand, Luzern – wo er sich die Wunde in einem öffentlichen Krankenhaus hatte nähen lassen – Straßburg, Luxemburg, Brüssel, Amsterdam, Berlin, Warschau, Wien, Ljubljana, Venedig, Pescara, Foggia, Neapel, Reggio di Calabria, Messina und schließlich Milazzo. Eine achtundvierzigstündige, quälend lange Bahnfahrt, nach der er sich geschwächt, aufgewühlt und erschöpft fühlte.
Jetzt aber, als er dem Sonnenuntergang zusah, spürte er, wie seine Kraft und Geistesgegenwart zurückkehrten. In Florenz war sie nur knapp entkommen; sie hatte ihn nicht verfolgt, konnte es nicht. Seither hatte er seine Identität mehrfach gewechselt, seine Fährte in einem solchen Maße verwischt, dass weder sienoch irgendjemand sonst hoffen konnte, seine Spur aufzunehmen. Die offenen Grenzen der Europäischen Union, seine Einreise in die Schweiz und Wiedereinreise in die EU unter einer anderen Identität würden auch den hartnäckigsten und scharfsinnigsten Verfolger vor unlösbare Probleme stellen.
Sie würde ihn nicht finden. Und sein Bruder auch nicht. Fünf Jahre, zehn Jahre, zwanzig – er hatte alle Zeit der Welt, um seinen nächsten – seinen letzten – Schritt zu planen.
Er stand an der Reling, atmete den Hauch des Meeres ein und spürte, wie er innerlich ein wenig zur Ruhe kam. Und zum ersten Mal seit Monaten versiegte die nicht enden wollende, sarkastische, spöttische Stimme in seinem Kopf zu einem Murmeln, das im Geräusch des durch die See pflügenden Schiffsbugs fast nicht zu hören war.
Gute Nacht, Damen: Gute Nacht, süße Damen! Gute Nacht, gute Nacht.
75
In der Viale Giannotti stieg Special Agent Aloysius Pendergast aus dem Bus und ging durch einen kleinen Park mit Platanen, vorbei an einem schäbigen Karussell. Er trug seine normale Kleidung – seit er die Vereinigten Staaten wohlbehalten hinter sich gelassen hatte, bestand keine Notwendigkeit mehr, sich zu verkleiden. Auf der Via di Ripoli bog er nach links und blieb vor dem großen Eisentor stehen, das in das Kloster der Nonnen von San Giovanni Battista führte. Ein kleines Schild kennzeichnete es lediglich als
Villa Merlo Bianco.
Hinter dem Tor hörte er den Lärm spielender Schulkinder auf dem Pausenhof.
Er betätigte den Summer. Nach einem Moment öffnete sich das Tor automatisch und gab den Blick auf einen gekiesten Hof vor einer großen ockerfarbenen Villa frei. Eine Seitentür stand offen, ein kleines Schild kennzeichnete sie als Gästeempfang.
»Guten Morgen«, sagte er auf Italienisch zu der kleinen, rundlichen Nonne am Empfang. »Sind Sie Schwester Claudia, mit der ich gesprochen habe?«
»Ja.«
Pendergast schüttelte ihr die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Wie ich am Telefon erwähnt habe, ist die Besucherin, von der wir sprachen – Miss Mary Ulciscor – meine Nichte. Sie ist von zu Hause fortgelaufen, die Familie macht sich größte Sorgen um sie.«
Die rundliche Nonne geriet fast außer Atem. »Ja, Signore, ehrlich gesagt, konnte man sehen, dass sie eine junge Dame in großen Nöten war. Als sie hier ankam, machte sie einen außerordentlich verzweifelten Eindruck. Und dann ist sie nicht einmal über Nacht geblieben – ist am Morgen angekommen, und als sie am Abend von ihrem Stadtbummel zurückgekehrt ist, hat sie darauf bestanden, sofort wieder abzureisen …«
»Mit dem Auto?«
»Nein, sie ist zu Fuß gekommen und gegangen. Sie muss den
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