Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
hatte, und wählte die Nummer. Bartoli war zu Hause.
»Wie könnte ich mich nicht an sie erinnern?«, sagte der Busfahrer. »Sie hatte sich einen Schal um den Kopf gewickelt, man konnte ihr Gesicht nicht erkennen, und ihre Stimme klang ganz gedämpft. Sie sprach ein altmodisches Italienisch, hat mir gegenüber die Anredeform
voi
benutzt – das habe ich nicht mehr seit den Tagen der Faschisten gehört. Sie war wie ein Geist aus der Vergangenheit. Ich habe mir gedacht, dass sie vielleicht verrückt ist.«
»Erinnern Sie sich, wo sie ausgestiegen ist?«
»Sie hat mich gebeten, an der Biblioteca Nazionale anzuhalten.«
Es war ein langer Fußweg von der Piazza Ferrucci zur Nationalbibliothek auf der anderen Seite des Arno, deren braune Barockfassade sich elegant aus einer schmutzigen Piazza erhob. In dem kalten, hallenden Lesesaal fand Pendergast eine Bibliothekarin, die sich ebenso gut an Constance erinnerte wie der Busfahrer.
»Ja. Ich hatte die Abendschicht«, erzählte ihm die Frau. »Sospät kommen nicht viele Leute hierher, und sie sah so verloren, so verzweifelt aus, dass ich nicht den Blick von ihr wenden konnte. Sie hat über eine Stunde lang auf ein Buch gestarrt. Hat nie umgeblättert, immer auf dieselbe Seite, hat vor sich hin gemurmelt, als sei sie verrückt. Es war kurz vor Mitternacht, und ich wollte sie gerade bitten zu gehen, damit ich schließen konnte. Aber dann ist sie mit einem Mal aufgesprungen und hat ein anderes Buch konsultiert …«
»Welches andere Buch?«
»Einen Atlas. Sie hat wohl zehn Minuten lang darüber gegrübelt, hat dabei ganz hektisch irgendwas in ein kleines Notizbuch gekritzelt, und dann ist sie aus der Bibliothek gerannt, als wären die Höllenhunde hinter ihr her.«
»Welchen Atlas?«
»Das habe ich nicht gesehen – es war einer von denen auf dem Regal mit den Nachschlagewerken da, sie musste keinen Leihschein ausfüllen, um ihn sich anzuschauen. Aber schauen wir mal, ich habe noch den Schein, den sie für das Buch ausgefüllt hat, auf das sie so lange gestarrt hat. Einen Augenblick bitte, ich hole Ihnen den Schein.«
Einige Minuten später saß Pendergast dort, wo Constance gesessen hatte, und starrte auf das Buch, auf das auch sie gestarrt hatte: ein schmaler Band mit Gedichten von Giosuè Carducci, dem italienischen Dichter, der 1906 den Literaturnobelpreis erhalten hatte.
Der Gedichtband lag vor ihm, nicht aufgeschlagen. Jetzt stellte er ihn, ganz vorsichtig, so auf den Rücken, dass die Seiten auseinanderfielen, in der Hoffnung, dass der Band, so wie Bücher das manchmal tun, auf der letzten Seite aufklappen würde, die gelesen worden war. Aber es war ein altes, steifes Buch und klappte deshalb nur an den Vorsatzpapieren auf.
Pendergast griff in die Tasche seiner Anzugjacke, zog ein Vergrößerungsglas und einen sauberen Zahnstocher hervor undblätterte damit die Seiten des Buchs um. Auf jeder Seite, die er umblätterte, schabte er mit dem Zahnstocher am Steg entlang und untersuchte anschließend den Schmutz, die Haare und die Fasern, die unter dem Vergrößerungsglas zum Vorschein kamen.
Eine Stunde später, auf Seite zweiundvierzig, fand er, wonach er gesucht hatte: drei rote Wollfasern, gekringelt, so als stammten sie von einem Strickschal.
Das Gedicht, das über zwei Seiten ging, hieß »La Leggenda dei Teodorico«, die Legende von Theoderich.
Er begann zu lesen.
Su ’l castello di Verona
Batte il sole a mezzogiorno,
Da la Chiusa al pian rintrona
Solitario un suon di corno …
Auf die große Burg in Verona
Scheint die pralle Mittagssonne,
Von den Bergen bei Chiusa, über die Ebene,
Tönt einsam das Horn des Untergangs …
Das Gedicht erzählte die Geschichte vom Tod des Gotenkönigs Theoderich. Pendergast las es einmal, dann noch einmal, erkannte aber nicht, wieso Constance dem Gedicht eine so große Bedeutung beigemessen hatte. Er las es noch einmal und rief sich die düstere Legende in Erinnerung.
Theoderich war einer der ersten nichtrömischen Herrscher Italiens. Er schuf sein Königreich aus dem zerfallenen Rest des Römischen Reichs; neben anderen grausamen Taten ließ er auch den brillanten Staatsmann und Philosophen Boethius hinrichten. Theoderich starb im Jahr 526. Nach der Legende schwor ein heiliger Eremit, der allein auf einer der ÄolischenInseln vor der Küste Siziliens lebte, just in der Stunde des Todes des Theoderich mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie die schreiende Seele des Königs in den Schlund des gro ßen Vulkans auf
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