Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
einmal schrie Plock: »Die Tiere!« Er konnte sie hören und riechen, ein gedämpfter Tumult hinter einer Tür am Kopfende des Altars. »Hier entlang! Findet und befreit die Tiere!« Er rannte auf die Tür zu und donnerte dagegen.
Die Speerspitze der Demonstranten warf sich gegen die Tür, wieder erschienen die Rammböcke. Krachend und splitternd gab die Tür nach, und die Demonstranten strömten durch einen steinernen Durchgang, aber ein schweres gusseisernes Gitter versperrte ihnen den Weg. Auf der anderen Seite sahen sie ein Bild wie aus der Hölle: Dutzende von jungen Tieren, Lämmer, Kälber, sogar Welpen und Kätzchen, eingesperrt in eine riesige Steinkammer, der Boden bestreut mit einer dünnen Strohschicht. Die Kätzchen stimmten ein jämmerliches Miauen an, die Lämmer blökten, die Welpen winselten.
Einen Moment lang war Plock sprachlos vor Entsetzen. Das war schlimmer als alles, was er sich vorgestellt hatte.
»Öffnet das Tor!«, rief er. »Lasst die Tiere frei!«
»Nein!«, rief Bossong, der sich mühsam nach vorn durchkämpfte, aber er wurde beiseitegeschoben und zu Boden gestoßen.
Die Rammböcke donnerten gegen das eiserne Gitter, das sich jedoch als sehr viel widerstandsfähiger als die hölzerne Tür erwies. Wieder und wieder schlugen die Männer gegen das Eisen, während die Tiere zurückschraken und vor Angst schrien.
»Ein Schlüssel! Holt einen Schlüssel!«, rief Plock. »
Er
muss einen haben.« Er zeigte auf Bossong, der sich aufgerappelt hatte und mit mehreren Demonstranten rang.
Die Menge warf sich auf Bossong, er verschwand in dem Wirbel, man hörte Kleiderstoff reißen.
»Hier!« Ein Mann hielt einen Eisenring mit Schlüsseln daran in die Höhe. Rasch wurde der Eisenring nach vorn durchgereicht, Plock steckte die schweren, uralten Schlüssel ins Schloss, einen nach dem anderen. Mit einem klappte es. Er stieß das Tor weit auf.
»Freiheit!«, rief er.
Die Vorhut der Demonstranten stürmte in die Kammer, scheuchte die Tiere hinaus und versuchte, sie zusammenzuhalten. Aber sobald die Tiere das Tor passiert hatten, stoben sie vor panischem Entsetzen auseinander und rannten umher, während ihre Schreie in dem großen Kirchenraum widerhallten.
Die Weichen waren gestellt, die Kirche verwandelte sich in eine Höllenszene aus Kämpfen und Fliehen, in der die Demonstranten eindeutig die Oberhand gewannen. Die Tiere liefen den Mittelgang entlang, sprangen davon, als die Gemeindemitglieder sie zu fassen versuchten, und verschwanden rasch durch jede Tür und Öffnung, die sie finden konnten.
»Jetzt gilt’s!«, schrie Plock. »Treibt diese Schlachter hinaus. Treibt sie hinaus! Sofort!«
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72
Das Schnellboot der Polizei mit Pendergast am Steuer raste mit fünfzig Knoten den Harlem River hinunter und bog um die Nordspitze von Manhattan Island in Richtung Süden. Es brauste unter mehreren Brücken hindurch, der West-207th-Street-Brücke, der George-Washington-Brücke, der Alexander-Hamilton-Brücke, der High Bridge, der Macombs-Dam-Brücke, der 145th-Street-Brücke und schließlich der Willis-Avenue-Bridge. Hier, in der Nähe des Zusammenflusses mit dem East River, verbreiterte sich der Harlem River zu einer Bucht. Doch anstatt in den East River einzubiegen, wendete Pendergast das Boot unter lautem Jaulen und steuerte es in den Bronx Kill, einen schmalen, übelriechenden Seitenarm, der die Bronx von Randall’s Island trennte.
Er reduzierte die Geschwindigkeit auf dreißig Knoten und steuerte den Bronx Kill – eher ein offener Abwasserkanal und eine Müllkippe denn ein schiffbarer Wasserweg – hinunter, das Boot warf braunes Kielwasser auf, aus dem der Geruch von Marschgras und Abwässern wie ein Pesthauch aufstieg. Vor ihm ragte eine dunkle Eisenbahn-Bockbrücke empor, und als er darunter hindurchfuhr, erzeugte der Dieselmotor in dem kurzen Tunnel einen unheimlichen Halleffekt. Die Nacht hatte die öde Stadtlandschaft eingehüllt. Pendergast packte den Griff des Scheinwerfers und richtete den Lichtstrahl auf verschiedene vor ihm liegende Hindernisse, während das Boot Slalom fuhr zwischen den halb versunkenen Rümpfen alter Schuten, den verrotteten Pfeilern längst verschwundener Brücken und den unter Wasser liegenden Skeletten uralter U-Bahn-Waggons. Plötzlich verbreiterte sich der Bronx Kill wieder zu einer breiten Bucht und mündete in das obere Hell Gate und das Nordende des East River. Direkt vor ihm erhob sich die riesige Gefängnisanlage auf Rikers Island, die
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