Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Euer Ehren.«
»Nun gut.« Der Richter nahm einen anderen Stapel Papiere zur Hand, holte tief Luft und richtete den Blick in den kleinen, fast menschenleeren Gerichtssaal. Dann setzte er die Brille wieder auf und beugte sich über seine Unterlagen. »Das Gericht stellt hiermit fest –«
Constance Greene erhob sich, plötzlich ganz rot im Gesicht, von ihrem Stuhl. Zum ersten Mal zeigte sie so etwas wie eine Gefühlsreaktion. Felders Eindruck nach war sie sogar ein wenig wütend. »Nach reiflicher Überlegung glaube ich, dass ich mich doch äußern möchte.« Plötzlich hatte ihre Stimme eine gewisse Schärfe. »Darf ich sprechen, Euer Ehren?«
Der Richter setzte sich zurück und verschränkte die Hände. »Ich werde eine Aussage zulassen.«
»Ich wurde tatsächlich in der Water Street geboren, in den Siebzigern – allerdings in den Siebzigern des
neunzehnten
Jahrhunderts. Alles, was Sie wissen müssen, finden Sie im Stadtarchiv in der Centre Street, Weiteres in der New York Public Library. Über mich; über meine Schwester Mary, die ins Armenhaus, die Missionsstation von Five Points, geschickt wurde und später einem Massenmord zum Opfer fiel; über meinen Bruder Joseph; über meine Eltern, die an Tuberkulose starben – dort finden Sie alle erforderlichen Informationen. Das weiß ich, weil ich die Akten selbst eingesehen habe.«
Stille breitete sich in dem Gerichtssaal aus. Schließlich sagte der Richter. »Vielen Dank, Miss Greene. Sie dürfen wieder Platz nehmen.«
Sie setzte sich.
Der Richter räusperte sich. »Das Gericht stellt hiermit fest, dass Miss Constance Greene, Alter unbekannt, geistig nicht zurechnungsfähig ist und zurzeit eine eindeutige Gefahr für sich und andere darstellt. Das Gericht ordnet daher an, Constance Greene in die Justizvollzugsanstalt Bedford Hills zum Zweck der Beobachtung und Behandlung einzuweisen. Und zwar für unbestimmte Zeit.«
Er klopfte mit dem Hämmerchen auf den Richtertisch. »Die Sitzung ist beendet.«
Felder stand auf; er fühlte sich seltsam mutlos. Er warf einen Blick auf die rätselhafte Frau, die sich wieder erhoben hatte und jetzt von zwei muskulösen Wachmännern flankiert wurde. Wie sie so zwischen den Männern stand, wirkte sie klein und zerbrechlich. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, das jetzt wieder völlig ausdruckslos wirkte. Sie wusste, was gerade geschehen war – sie
musste
es wissen –, und trotzdem zeigte sie nicht die geringste Gefühlsregung.
Felder wandte sich ab und verließ den Gerichtssaal.
55
Sulphur, Louisiana
Der gemietete Buick glitt auf der diamantgeschliffenen Betondecke der Interstate 10 dahin. Hayward hatte den Tempomat auf 75 Meilen pro Stunde eingestellt, obwohl Pendergast gemurrt hatte, dass sie bei dieser Geschwindigkeit fünf Minuten zu früh in der Stadt eintreffen würden.
Sie hatten an diesem Tag schon über 300 Kilometer in dem Buick zurückgelegt, wobei Hayward aufgefallen war, dass Pendergast schlechte Laune hatte, was ihm gar nicht ähnlich sah. Er hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass ihm der Buick missfiel, und mehr als einmal vorgeschlagen, in den Rolls-Royce – dessen Windschutzscheibe ersetzt worden war – überzuwechseln, aber Hayward hatte sich geweigert, in das Auto einzusteigen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, effizient ermitteln zu können, wenn man in einem Rolls herumgondelte, außerdem fragte sie sich, wie Pendergast überhaupt auf die Idee kommen konnte, ein derart extravagantes Auto für die Arbeit zu nutzen. Die Fahrt in dem alten Porsche seiner Frau war schon schlimm genug gewesen. Nachdem Hayward einen Tag darin gefahren war, hatte sie den Sportwagen in Pendergasts Garage abgestellt und darauf bestanden, ein zwar sehr viel weniger aufregendes, aber tausendmal weniger auffälliges Auto zu mieten.
Insbesondere ärgerte sich Pendergast vermutlich darüber, dass die ersten beiden Namen auf der Liste von Mary Ann Roblet nichts ergeben hatten. Die erste Person war längst verstorben, die andere geistig unzurechnungsfähig und lag obendrein in einem Krankenhaus, angeschlossen an eine Herz-Lungen-Maschine. Sie befanden sich nun auf dem Weg zur dritten und letzten Person. Denison Phillips IV ., ehemals Justitiar bei Longitude, der als Ruheständler sein Leben am Bonvie Drive auf dem Gelände des Bayou Glades Country Club von Sulphur genoss. Name und Adresse hatten in Hayward bereits ein inneres Bild aufsteigen lassen: Angehöriger der landbesitzenden Oberschicht, wie es sie
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