Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
bewegten sich schneller und schneller.
»Und dies alles –«, Pendergast gestikulierte mit der Waffe. »Der Morphiumtropf, die Peitsche – sind Ablenkungen vom permanenten Ansturm der Empfindungen?«
Brodie nickte eifrig. »Sie sehen also, er ist nicht verantwortlich für das, was er sagt. Vielleicht können wir ihn so weit bringen, dass er wieder so wird, wie er früher einmal war. Wir haben es versucht, versuchen es seit Jahren. Es gibt immer noch Hoffnung. Er ist ein guter Mensch, ein Heiler, er hat gute Werke getan.«
Pendergast hob die Waffe. Sein Gesicht war weiß wie Marmor, der zerrissene Anzug hing an ihm wie ein Lumpen. »Ich habe kein Interesse an den guten Werken dieses Mannes. Ich will nur eines: den Namen der letzten, noch nicht genannten Person, die am Projekt Aves mitgearbeitet hat.«
Doch Slade war wieder in seine Welt entschwunden, er plapperte leise gegen die leere Wand, seine Finger zuckten. Er packte den Infusionsständer, fing am ganzen Körper an zu zittern, der Ständer wankte. Ein zweimaliger Druck auf die Infusionspumpe, dann hatte er sich wieder einigermaßen im Griff.
»Sie quälen ihn!«, flüsterte Brodie.
Pendergast ignorierte sie und drehte sich zu Slade um. »Der Entschluss, sie zu töten, war das Ihrer?«
»Ja. Zunächst hatten die anderen Einwände erhoben. Aber dann erkannten sie, dass wir keine andere Wahl hatten. Sie ließ sich nicht besänftigen, ließ sich nicht kaufen. Also haben wir sie getötet, und zwar höchst einfallsreich! Gefressen von einem dressierten Löwen.« Erneut brach er in ein sorgfältig eingedämmtes, stummes Gelächter aus.
Die Waffe in Pendergasts Hand begann langsam sichtbarer zu zittern.
»Knack, knack!«, flüsterte Slade mit vor klammheimlicher Freude geweiteten Augen. »Ah, Pendergast, Sie haben ja keine Ahnung, was für eine Büchse der Pandora Sie mit Ihren Ermittlungen geöffnet haben. Sie haben den schlafenden Hund mit einem Tritt in den Hintern geweckt.«
Pendergast zielte.
»Sie haben es versprochen«, sagte Hayward mit leiser, insistierender Stimme.
»Er muss sterben«, flüsterte Pendergast fast zu sich selbst. »Dieser Mann muss sterben.«
»Der Mann muss sterben«, sagte Slade spöttelnd und hob die Stimme leicht über ein Flüstern, ehe er sie wieder senkte. »Töten Sie mich, bitte. Machen Sie meinem Elend ein Ende.«
»Sie haben es
versprochen
«, wiederholte Hayward.
Abrupt, fast so, als überwältige er einen unsichtbaren Gegner bei einem Ringkampf, senkte Pendergast die Pistole. Dann trat er einen Schritt auf Slade zu, ließ die Waffe um den Finger wirbeln und hielt sie Slade hin.
Slade packte die Pistole, entriss sie Pendergast förmlich.
»O mein Gott!«, rief Brodie. »Was machen Sie denn da? Er wird Sie umbringen!«
Mit einer routinierten Bewegung zog Slade den Schlitten zurück, ließ ihn wieder einrasten, dann richtete er die Waffe langsam auf Pendergast. Ein schiefes Lächeln entstellte seine ausgezehrten Gesichtszüge. »Ich werde Sie an den gleichen Ort schicken, an den ich Ihr Miststück von Ehefrau geschickt habe.« Dann legte er den Finger an den Abzug.
77
»Nur eine Sekunde«, sagte Pendergast. »Bevor Sie schießen, würde ich gern mit Ihnen reden. Unter vier Augen.«
Slade schaute ihn an. In seiner knotigen Faust wirkte die große Faustfeuerwaffe fast wie ein Spielzeug. Gleichzeitig hielt er sich am Infusionsständer fest. »Warum?«
»Es gibt da etwas, das Sie wissen müssen.«
Slade sah ihn weiter an. »Was für ein schlechter Gastgeber ich doch bin. Kommen Sie mit in mein Büro.«
June Brodie machte Anstalten zu protestieren, aber Slade gestikulierte mit der Waffe in Richtung Tür. »Gäste zuerst«, sagte er.
Pendergast warf Hayward einen warnenden Blick zu, dann trat er durch den dunklen Türrahmen.
Der Flur war mit Zedernholz getäfelt, das mit grauer Farbe gestrichen war. Deckeneinbauleuchten warfen schwache, gleichmäßige Lichtkreise auf den neutralen, dichtgewebten Teppichboden. Slade ging langsam hinter Pendergast her, die kleinen Räder seines Infusionsständers machten keinerlei Geräusch. »Letzte Tür links«, sagte er.
Das Zimmer, das Slade als Büro diente, war früher einmal der Spieleraum der Lodge gewesen. An einer Wand hing ein Dartbrett, vor den Wänden standen mehrere Stühle und zwei Tische, deren Platten Backgammon- und Schachbretter zeigten. Ein Billardtisch im hinteren Teil diente Slade offenbar als Schreibtisch. Die Filzoberfläche war leer bis auf sorgfältig
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