Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Schreibtisch saß, den sie allem Anschein nach ziemlich überhastet und in einiger Verwirrung verlassen hatte. Als sie sich nach jemandem umsahen, mit dem sie sprechen konnten, näherte sich auf dem marmornen Querflur ratternd eine von zwei stämmigen Pflegern geschobene fahrbare Krankentrage mit einem menschlichen Körper unter einem schwarzen Laken. D’Agosta sah, wie ein Rettungswagen auf die Auffahrt bog, allerdings ohne Sirenengeheul oder Blaulicht. Also kein Notfall.
»Guten Morgen, Mr. Pendergast!« Dr. Ostrom, der für Großtante Cornelia zuständige Stationsarzt, erschien in der Eingangshalle und eilte mit ausgestreckter Hand und einem Ausdruck der Verwunderung und Bestürzung im Gesicht auf sie zu. »Das ist … nun ja, ich wollte sie gerade anrufen. Bitte kommen Sie mit.«
Sie folgten dem Arzt über den einst hochherrschaftlichen Flur, der heute karg und behördenähnlich wirkte. »Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie«, sagte er, während sie weitergingen. »Ihre Großtante ist vor knapp einer halben Stunde verstorben.«
Pendergast blieb stehen. Er atmete langsam aus und ließ die Schultern sichtlich hängen. Erschrocken erkannte D’Agosta, dass es sich bei dem Leichnam, den sie gesehen hatten, um Tante Cornelia gehandelt haben musste.
»Natürliche Ursachen?«, fragte Pendergast leise und ausdruckslos.
»Mehr oder weniger. Fest steht allerdings, dass sie in den letzten Tagen zunehmend unter Ängsten und Wahnvorstellungen litt.«
Pendergast dachte kurz nach. »Irgendwelche besonderen Wahnvorstellungen?«
»Nichts, was wert wäre, wiederholt zu werden. Es waren die üblichen Themen rund um die Familie.«
»Ich würde sie dennoch gerne hören.«
Ostrom schien es zu widerstreben, fortzufahren. »Sie hat gemeint … dass ein Mann, ein gewisser, äh, Ambergris nach Mount Mercy kommt, um sich an ihr zu rächen, und zwar wegen einer Greueltat, die sie laut eigener Aussage vor Jahren begangen hat.«
Die drei gingen weiter über den Flur. »Hat sie die Greueltat genauer beschrieben?«, fragte Pendergast.
»Es war eine hanebüchene Geschichte. Es ging dabei um die Bestrafung eines Kindes …« Ostrom stockte erneut. »Nun ja, indem man ihm die Zunge mit einem Rasiermesser spaltet.«
Eine mehrdeutige Kopfbewegung von Pendergast. D’Agosta meinte zu spüren, wie sich seine Zunge beim Gedanken an dieses Geschehen einrollte.
»Auf jeden Fall«, fuhr Ostrom fort, »ist sie gewalttätig geworden – das heißt, gewalttätiger als üblich –, so dass wir sie komplett festbinden mussten. Und ruhigstellen. Zum Zeitpunkt des angeblichen Treffens mit diesem Ambergris erlitt sie mehrere Schlaganfälle und ist dann plötzlich verschieden. Ah, da wären wir.«
Er betrat ein kleines, fensterloses Zimmer, das spärlich mit alten Möbeln, ungerahmten Bildern und diversem weichem Nippes eingerichtet war – nichts, wie D’Agosta bemerkte, was zu einer Waffe gefertigt werden oder einem Menschen Schaden zufügen konnte. Sogar die Keilrahmen waren von den Leinwänden entfernt worden, die Gemälde mit Drachenschnur an der Wand befestigt. Und während er sich so umsah – das Bett, der Tisch, die Seidenblumen im kleinen Körbchen, ein merkwürdiger schmetterlingsförmiger Fleck an der Decke –, kam ihm das alles ungeheuer trostlos vor, und er empfand plötzlich Mitleid mit der gemeingefährlichen alten Dame.
»Da wäre noch die Frage nach der Verwendung des persönlichen Besitzes zu klären«, redete der Arzt weiter. »Wie ich höre, sind die Gemälde recht wertvoll.«
»Ganz recht«, sagte Pendergast. »Schicken Sie sie an Christie’s, an die Abteilung für das neunzehnte Jahrhundert. Dort soll man die Bilder in eine Auktion geben. Betrachten Sie den Erlös als Schenkung. Für Ihre guten Werke.«
»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mr. Pendergast. Möchten Sie vielleicht eine Obduktion anordnen? Wenn ein Patient während seines Aufenthalts hier bei uns stirbt, haben die Angehörigen das Recht –«
Pendergast unterbrach ihn mit einer brüsken Handbewegung. »Das wird nicht nötig sein.«
»Und die Vorkehrungen für das Begräbnis?«
»Es wird keines stattfinden. Der Anwalt unserer Familie, Mr. Ogilby, wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen und Ihnen mitteilen, wie mit den sterblichen Überresten zu verfahren ist.«
»Wie Sie wünschen.«
Pendergast sah sich kurz im Zimmer um, so als wollte er sich alle Einzelheiten genau einprägen. Dann wandte er sich zu D’Agosta um. Seine Gesichtszüge
Weitere Kostenlose Bücher