Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
sich leicht vom Holz gelöst hatte, weil der alte Klebestoff getrocknet war. Jedes Etikett war mit verblasster Tinte beschrieben. Bierstadt, Bd. 1, Bierstadt, Bd. 2.
Die Bierstadt-Korrespondenz. Das Ziel der Harvard-Delegation, die vergebens hierhergepilgert war. Zweifellos ein Vermögen wert …
Felder schaltete die Taschenlampe aus und trat schnell einen Schritt weg von den Regalen. War da ein Geräusch gewesen?
Einen langen Moment stand er reglos da und horchte. Aber da war nichts. Er wandte sich um und warf einen Blick zur Kassettentür. Unter ihr war kein Lichtstrahl zu erkennen.
Trotzdem machte er ängstlich ein paar Schritte auf das offene Fenster zu, seine Fluchtmöglichkeit.
Noch einmal blieb er stehen und horchte gut eine Minute lang, bevor er sich erneut den Regalen widmete. Er hob die Taschenlampe an, deckte sie wieder teilweise mit der Hand ab und richtete den Lichtstrahl kurz auf die vor ihm befindlichen Regale. Auf dem in Augenhöhe stand ein riesiger Foliant, umgeben von einer kleineren Gruppe von Büchern mit identischen Goldrücken. Goethes Faust, unerhört schön, der Ledereinband geprägt und mit verspielten Formen verziert …
Felder erschrak derart heftig, dass er die Taschenlampe beinahe fallen gelassen hätte. Hörte er Phantasielaute in seiner äußersten Erregung, oder waren das nicht doch Schritte auf dem Teppich im Flur vor der Bibliothek gewesen, ein Schreiten, so verstohlen wie das einer Katze?
Nervös blickte er in Richtung Kassettentür. Noch immer schien kein Licht unter der Tür – alles war pechschwarz. Wieder drehte er sich zu den Regalen, um einen Blick darauf zu werfen.
Und da bewirkte irgendetwas – er wusste nicht genau, was –, dass er sich erneut umdrehte, geradewegs zum offenen Fenster schritt, hinaus und auf den Boden glitt und das Fenster leise hinter sich schloss. Gott sei Dank hatte er daran gedacht, das Öl mitzubringen.
Leicht zitternd stand er in der finsteren Nacht. Während sein Herz allmählich langsamer schlug, kam er sich töricht vor. Schuld daran war nur seine Phantasie, die ihm Streiche spielte. Da war gar kein Geräusch gewesen, kein Licht. Wenn er jedem Anflug von Bammel zum Opfer fiel, dann würde er die Mappe niemals finden. Wieder drehte er sich zum Fenster um. Er würde noch mal einsteigen und sich die Anordnung der Bücher genauer einprägen.
Unvermittelt wurde die Tür zur Bibliothek aufgestoßen. Die Heftigkeit, mit der sie geöffnet wurde, war genauso furchterregend wie die Stille, mit der sie sich bewegte. Felder trat vor Schreck vom Fenster zurück. In der Tür stand ein Hüne, gerahmt von einem ganz schwachen Lichtschein aus dem Flur dahinter. Ein Mann in einem merkwürdigen, formlosen Kleidungsstück, in der einen Hand einen langen, gebogenen Holzknüppel, der in einer krocketballgroßen Kugel endete.
Dukchuck.
Felder stand im Dunkeln vor dem Bibliotheksfenster. Wie angewurzelt vor Angst starrte er durch die Fensterscheibe. Vorsichtig blickte sich der Diener im Zimmer um, drehte langsam und bedächtig wie ein großes Tier den kahlen und matt schimmernden Schädel und nahm jeden Zentimeter des Raums in Augenschein. Und dann schloss er die Kassettentür wieder, schnell und leise. Erneut war das Haus still – und jetzt schlug das Herz wie verrückt in Felders Brust.
Nachdem er sich wieder gefasst hatte, verzog er sich, so schnell er sich traute, zurück ins Torhaus. Aber noch bevor dieser furchtbare Anflug von Angst ganz verklungen war, spürte er etwas anderes – einen Funken Hoffnung. Weil ihm nämlich gerade etwas aufgegangen war.
Adams. Bierstadt. Goethe. Die Bücher in der Wintour-Bibliothek waren in alphabetischer Reihenfolge angeordnet.
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C onstance Greene saß ganz still in dem riesigen, getäfelten Zimmer 027 im ersten Untergeschoss des Mount Mercy Hospital für psychisch kranke Straftäter. In diesem Raum waren einmal die »Wasserbehandlungen« durchgeführt worden, eine Heiltherapie, die Bradford Tuke, einer der ersten Irrenärzte des Mount Mercy, eingeführt hatte. Zwar waren die Klampen für die Handschellen schon vor langer Zeit entfernt worden, aber die sichtbare Senke im Teppichboden in der Raummitte verriet, wo sich der große Bodenabfluss – jetzt mit Beton gefüllt – befunden hatte.
Heutzutage wurde der Raum vorwiegend für private psychiatrische Sitzungen zwischen Ärzten und Patienten mit geringem Bedrohungspotenzial genutzt. Er war behaglich möbliert. Dennoch: Stühle und Tische waren zwar nicht mit
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